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Nr. 20

O JUGEND .

1902

EINSAMKEIT

Dabei lehnte sie ihren Kopf an seine Brust.
Gr küßte sie auf den Mund, die Stirne, die Augen
und die weiche Fülle ihres mattrothen Paares, das
ihn zuerst entzückt hatte.

Die bitteren Anwandlungen waren ans seinem
Gemiithe wieder verscheucht, und das Labinetbild
von Fritzl's erstem Gatten lag im Schachtgrabe
halbvergessener Familienbilder. Noch lieber hätte
er es im Vfen gewußt. Aus dem Kreise seiner
Vorstellungen konnte er ihn doch nicht verbannen,
den in tiefer Seele Gehaßten, den Mann mit der
glücklichen Miene, die das Hochgefühl anszudrücken
schien: „Beneidet mich nur um den Schatz eines
jungen blühenden Weibes, ich war's, dein diese
lieblichste jungfräulichste aller Mädchenblüthen in
den Schoß fiel ..

In all seinem Lheglück kam es zeitweise noch
über ihn, wie die Rückfälle eines hartnäckigen, un-
heilbaren Leidens. Und dann suchte er sich mit
vernünftigen Raisonnements zu beruhigen. ,jGr
war ja doch der Begründer Deines Glücks, und
Du hättest Ursache, ihm im Stillen zu danken, ».
s. 10.“ Dabei trug er aber die Photographie-
Schachtel an einen andern Grt, so daß sie ganz
aus seinem Gesichtskreis kam.

Mehrere Wochen nach jener Unterredung fügte
es ein besonderer Zufall, das sich dem Gatten der
jungen Witwe ein sonst wohlverschlossenes Fach

ihres Schreibtisches ohne Zeugen cröffnete. Sein
Blick fiel auf ein albnmartiges Buch mit beschrie-
benen Blättern; ;8Y8 stand auf dem Lcdcrdeckel,
das Jahr, in welchem Fritzl ihre erste Ehe ge-
schloffen hatte.

Keinesfalls hätte er irgend etwas minderes von
ihren aufbewahrten Schriften berührt, aber diese
Jahreszahl!... Es erwachten plötzlich in ihm alle
Quellen, die an feinem Glück nagten. Vhne das
Buch von seinem Platz zu nehmen, hob er den
Deckel; nur einen Blick wollte er hineinwerfen.
Er fand Gleichgiltiges, in schreiblustiger Langweile
verfaßte überflüssige Aufzeichnungen aus der Zeit
ihres kurzen Brautstandes. Schon im Begriff, das
Buch zu schließen, fiel sein Blick auf das letzte
Blatt, und er las Folgendes:

„Ich habe es Wilhelm gesagt, denn ich mußte
es ihm sagen! Daß es Worte dafür gibt! wo
habe ich sie hergcnommeu? Ich glaube, ich würde
sie nie mehr wieder gefunden haben. Eine bange
Stunde! Er hat es mir so leicht gemacht, wie er
nur konnte. Ich werde ihm immer dafür danken.
Allen Groll lud er auf den, der einmal sein Freund
war. — Am Abend schrieb er mir, daß er mir ver-
geben wolle. Aber die Stunden bis dahin! — Nun
bin ich eine Andere, glücklich, versöhnt, begna-
digt! ..."

Hans Thoma (Karlsruhe)

Gr ließ den Buchdeckel auf das Blatt fallen,
und erschreckt starrte er vor sich hin. Minutenlang,
dann schloß er das Fach, so eilig und heftig, daß
der zierliche Damenschreibtisch erbebte. Gr sprang
auf, und mit ein paar langen Schritten hatte er
die Thür erreicht. Plötzlich hielt er inne. Gr
stemmte die Arme in die Seiten, erhob den Kopf
und sah sich im Zimmer um, wie Liner, der sich
selber zur Besinnung bringen will. Allmälig ver-
änderte sich der Ausdruck seiner verstört sinnenden
Miene und ganz zuletzt glitt der Schimmer eines
milden Lächelns über sein Gesicht.

Gr kehrte zu Frihl's Schreibtisch zurück, zog
den Schlüssel ab, legte ihn an seinen Platz, und
hierauf holte er aus der verborgenen Gaffette das
Bildniß des ersten Gatten seiner geliebten Frau.
Und er stellte es in aller Gcmüthsrnhe an die Stelle
am Schreibtisch, wo es vordem gestanden hatte.
Das grollende Ncidgefühl war verflogen, er hatte
sich mit seinem Vorgänger im Herzen ansgesöhnt,
der Anblick seines Bildes störte sein Glück nicht
mehr!

Die ahnungslose kleine Frau lobte ihn ob dieser
versöhnlichen Wandlung. Sie ahnte den Grund
nicht für das Grlöschen seines Neidgcfühls. Muß
man denn ein Bekenntniß, wie jenes, zweimal
oblegen, muß man es sagen? ...

Paul v. Sckiöntkari

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Hans Thoma: Einsamkeit
[nicht signierter Beitrag]: Moderne Trampel-Rezensionen
 
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