1902
Nr. 25
. JUGEND -
Filter JEJreund! GCCir verstehn uns ganz vorzüglich.
Gründlich lieben und hassen unsre Herzen,
Heidnisch ehrlich und gänzlich unvermuckert.
CGCie? Du stutzest. Ich weiss, Du kennst das Ding nicht.
O Du Glücklicher, kennst nicht das "Vermuckern 1
Dies, Oatullus, und lache! [jetzt will ich Dir
(XTas erzählen, ein lustiges ©eschichtchen
~V"on dem muckernden jlmor, von dem geheimen,
Der allmählich die ganze CCCelt vermuckert.
Zwar ist’s eigentlich noch der gleiche Schlingel,
Den, Oatullus, Du kennst wie irgend einer.
Hur ein Heuchler geworden ist er, der sich
~V"or das ßtellchen ein Ijeigenblatt geklebt hat
Und die /leuglein verdreht hinauf zum Himmel.
In den Händen ein Hosenkränzchen haltend,
Kniet er hin und bekreuzt Gesicht und Brust sich,
Iiallt Gebete und sieht verführend fromm aus.
ßo bethört er das Herz der lieben CCCeiblein,
Und die GCCeiblein besorgen’s dann den flUännlein.
Beide werden vermuckert, nämlich närrisch:
jllles blühende Hleisch sie möchten’s tödten;
Oder decken es zu, als wär’s ein Greuel.
Höchst bedenklich erscheint ein nackter Busen;
GCCaden, Schenkel und Hüften sind entsetzlich;
Doch das Schrecklichste bleiben die verdammten
Bösen Zipfelchen — grauenvoller Anblick
Kür vermuckerte Seelen! COCehe, wehe,
Dreimal wehe, wenn €[rz und Marmor ihnen
Solche schändlichen Heidendinge zeigen,
GCCie sie Mutter Hatur, die arg verderbte,
Iieider täglich auf’s neue lächelnd bildet.
Dachen, lieber Oatullus, lass uns lachen:
„Krieg den Zipfelchen!“ Das ist jetzt die Dosung
SU der närrischen Deute, die nicht wissen,
Dass der muckernde Mmor ihnen sämmtlich
Ihre Köpfe verdreht hat, dass die Mimen
Mlles schief und verschroben sehen müssen.
Dachen, lieber Oatullus, lass uns lachen,
Dass uns lieben und hassen recht von Herzen,
Heidnisch ehrlich und gänzlich unvermuckert!
Gedanken
Den „sozialen" Gesetzgebern: wie würdet ihr fliegen, wenn ihr frei-
willig kamt, wie uns überschütten, wenn ihr von Herzen gabt! Aber so
müßt ihr gestoßen und gezogen und jeder Tropfen euch entpreßt werden
nun: zur Strafe habt ihr auch keine Freude an eurem Wohlthu».
Die Aufgabe und Art des neuen und gesunden Menschen wird sein:
dem Tag der Dinge frei, kühn und thatig in's Auge sehn, und die Welt-
nacht nicht mehr- verzweifelt und gespenstersüchtig zu dnrchwühlen, son-
dern, dem Glück des nächsten Tages zuliebe, zu überschlafen.
Die Tugendform der Meisten ist: Vermeidung von Aufdeckung dee
geheimen Thuns oder der Begehrlichkeit nach dem Verbotenen.
Wahre Keuschheit liegt in der Gesinnung und wird sich nach außen
eher mit Libertinage maskiren. ^>-,,u
Ale der Student ^ülllibald fröhlich seinen lyrifch veran-
lagten Onkel ;u den verschiedenen Jahreszeiten anpumpt
I. 3m frübjabr
Theuerer, vielgeliebter (DttFcl!
Der Frühling hält seinen Einzug. Ringsum beginnen die Blumen
zu sprießen und die vöglein zu singen, ad), und mein verz würde mit-
sprießen und mitsingen, wenn es wüßte, wo das Geld für.den letzten
Wohnungszins hernehmen. Ach, Gnkel, was für einen Zauber übt
doch die erwachende Natur auf die Seele aus! Als ich gestern vormittag
aus der Aneipe heimkehrte und die Sonne aus dem weithinglänzenden
Meere emporstieg, groß, majestätisch, überwältigend, und die letzten ro
mantischen Trümmer meines Winterrocks mit magischer Kraft be-
leuchtete , ach, da fühlte ich eine solche Sehnsucht nach einem Ueber
zieher, daß ich am liebsten laut aufgeschrieen hätte. G wenn Du wüßtest,
lieber Gnkel, welch ein herrliches Gefühl es ist, mitten durch die blühenden
Fluren an der Seite eines Mädchens dahinzuschreiten, das in unserer Seele
gelesen hat und fiel) mit 3 Glas Bier und einem Braten mit Zu-
speis begnügt, Du würdest meine Stimmung begreifen. Als id) gestern
mit ihr über den feinen Ries im. Schönbrunner park dahinschritt, zu
Häupten das leuchtende, blaue Himmelszelt, und ihr ins Auge blickte, so
tief, so tief — da faßte mich plötzliä) eine solche Ergriffenheit, ein solches
In sid) selbst<hinein versunken sein, daß id) mir nid)ts mehr gewünscht hätte,
als ei» Paar neue Stiefel.
Liebster, theuerster Gnkel! Ich weiß, Du verstehst mich! Du hast immer
ein offenes Herz für die Sd)öitheit der neuerstehenden Natur gehabt, Du
wirst auch diesmal Dein Herz nicht versd)ließen, wenn es gilt, mit einer
Hundertguldennote die Wunder der Natur zu erschließen
Deinem Dich innigstliebenden Neffen
Willibald.
II. Im Sommer
Nein bester, mein theuerster Gnkel!
„Die lvelt wird schöner mit jedem Tag,
Id) weiß nid)t, wie das werden mag."
Id) weiß nidst, warum mir diese Verse jedesmal dnrd) den Aopf gehn,
wenn tnich meine Zimmerfrau fragt, wann ich endlich einmal die
fällige Miethe bezahlen werde?
„G schauen Sie dod) hin, liebe Frau Müller," ruf' ich ihr zu, „wie
herrlich die Lerd)en trillern und die bunten Rosenbüsche sd)illcrn. Fassen
Sie es denn noch immer nicht, das unendliche Wunder der Natur?" -
„Ihna fass' i, wann S’ murgen nit zahl'n!" erwidert sie wüthend.
Ach Gnkel, so sind die Menschen, so wenig eingewurzelt ist der Sinn
für die Schönheit der Erde in den Herzen der großen lilasse. So z. B.
geb' ich mir schon seit längerer Zeit die erdenklichste Mühe, in dem ver-
schlossenen Herzen meines Sd)neiders den Sinn für die Poesie
der Mondnacht und das Athmen des Weltgeistes wad)zurufen
umsonst! Er verweigert beharrlich die Anfertigung eines neuen Anzuges
ohne Baarz ah lung. Erst heute, da ich so frei war, ihn direkt an Dicb
zu verweisen, lieber Gnkel, hat er begonnen, feine Seele höheren Idealen
znznkehrcn und die Anfertigung des Anzuges zu versprechen.
Ach, Gnkel, wie soll ich Dir es schildern, wie sehr meine Seele vor
Schönheitsdnrst lcd)zt. Manchmal wird mir dabei so heiß, so fürchter
lid) heiß, daß id; unter „8 Halben" nicht existiren zu können vermeine.
Aber id; bin überzeugt, Deine schönheitsdurstige Seele wird meine schön
heitsdurstigc Seele nicht verlechzen lassen und ihr bald mit einem entsprechen-
den Znsd)uß zu Hilfe kommen.
Dein Dich wahnsinnig anbetcnder Neffe
Das Zeichen der Zeit
F, Valloton (Farin)
A14
Willibald.
Nr. 25
. JUGEND -
Filter JEJreund! GCCir verstehn uns ganz vorzüglich.
Gründlich lieben und hassen unsre Herzen,
Heidnisch ehrlich und gänzlich unvermuckert.
CGCie? Du stutzest. Ich weiss, Du kennst das Ding nicht.
O Du Glücklicher, kennst nicht das "Vermuckern 1
Dies, Oatullus, und lache! [jetzt will ich Dir
(XTas erzählen, ein lustiges ©eschichtchen
~V"on dem muckernden jlmor, von dem geheimen,
Der allmählich die ganze CCCelt vermuckert.
Zwar ist’s eigentlich noch der gleiche Schlingel,
Den, Oatullus, Du kennst wie irgend einer.
Hur ein Heuchler geworden ist er, der sich
~V"or das ßtellchen ein Ijeigenblatt geklebt hat
Und die /leuglein verdreht hinauf zum Himmel.
In den Händen ein Hosenkränzchen haltend,
Kniet er hin und bekreuzt Gesicht und Brust sich,
Iiallt Gebete und sieht verführend fromm aus.
ßo bethört er das Herz der lieben CCCeiblein,
Und die GCCeiblein besorgen’s dann den flUännlein.
Beide werden vermuckert, nämlich närrisch:
jllles blühende Hleisch sie möchten’s tödten;
Oder decken es zu, als wär’s ein Greuel.
Höchst bedenklich erscheint ein nackter Busen;
GCCaden, Schenkel und Hüften sind entsetzlich;
Doch das Schrecklichste bleiben die verdammten
Bösen Zipfelchen — grauenvoller Anblick
Kür vermuckerte Seelen! COCehe, wehe,
Dreimal wehe, wenn €[rz und Marmor ihnen
Solche schändlichen Heidendinge zeigen,
GCCie sie Mutter Hatur, die arg verderbte,
Iieider täglich auf’s neue lächelnd bildet.
Dachen, lieber Oatullus, lass uns lachen:
„Krieg den Zipfelchen!“ Das ist jetzt die Dosung
SU der närrischen Deute, die nicht wissen,
Dass der muckernde Mmor ihnen sämmtlich
Ihre Köpfe verdreht hat, dass die Mimen
Mlles schief und verschroben sehen müssen.
Dachen, lieber Oatullus, lass uns lachen,
Dass uns lieben und hassen recht von Herzen,
Heidnisch ehrlich und gänzlich unvermuckert!
Gedanken
Den „sozialen" Gesetzgebern: wie würdet ihr fliegen, wenn ihr frei-
willig kamt, wie uns überschütten, wenn ihr von Herzen gabt! Aber so
müßt ihr gestoßen und gezogen und jeder Tropfen euch entpreßt werden
nun: zur Strafe habt ihr auch keine Freude an eurem Wohlthu».
Die Aufgabe und Art des neuen und gesunden Menschen wird sein:
dem Tag der Dinge frei, kühn und thatig in's Auge sehn, und die Welt-
nacht nicht mehr- verzweifelt und gespenstersüchtig zu dnrchwühlen, son-
dern, dem Glück des nächsten Tages zuliebe, zu überschlafen.
Die Tugendform der Meisten ist: Vermeidung von Aufdeckung dee
geheimen Thuns oder der Begehrlichkeit nach dem Verbotenen.
Wahre Keuschheit liegt in der Gesinnung und wird sich nach außen
eher mit Libertinage maskiren. ^>-,,u
Ale der Student ^ülllibald fröhlich seinen lyrifch veran-
lagten Onkel ;u den verschiedenen Jahreszeiten anpumpt
I. 3m frübjabr
Theuerer, vielgeliebter (DttFcl!
Der Frühling hält seinen Einzug. Ringsum beginnen die Blumen
zu sprießen und die vöglein zu singen, ad), und mein verz würde mit-
sprießen und mitsingen, wenn es wüßte, wo das Geld für.den letzten
Wohnungszins hernehmen. Ach, Gnkel, was für einen Zauber übt
doch die erwachende Natur auf die Seele aus! Als ich gestern vormittag
aus der Aneipe heimkehrte und die Sonne aus dem weithinglänzenden
Meere emporstieg, groß, majestätisch, überwältigend, und die letzten ro
mantischen Trümmer meines Winterrocks mit magischer Kraft be-
leuchtete , ach, da fühlte ich eine solche Sehnsucht nach einem Ueber
zieher, daß ich am liebsten laut aufgeschrieen hätte. G wenn Du wüßtest,
lieber Gnkel, welch ein herrliches Gefühl es ist, mitten durch die blühenden
Fluren an der Seite eines Mädchens dahinzuschreiten, das in unserer Seele
gelesen hat und fiel) mit 3 Glas Bier und einem Braten mit Zu-
speis begnügt, Du würdest meine Stimmung begreifen. Als id) gestern
mit ihr über den feinen Ries im. Schönbrunner park dahinschritt, zu
Häupten das leuchtende, blaue Himmelszelt, und ihr ins Auge blickte, so
tief, so tief — da faßte mich plötzliä) eine solche Ergriffenheit, ein solches
In sid) selbst<hinein versunken sein, daß id) mir nid)ts mehr gewünscht hätte,
als ei» Paar neue Stiefel.
Liebster, theuerster Gnkel! Ich weiß, Du verstehst mich! Du hast immer
ein offenes Herz für die Sd)öitheit der neuerstehenden Natur gehabt, Du
wirst auch diesmal Dein Herz nicht versd)ließen, wenn es gilt, mit einer
Hundertguldennote die Wunder der Natur zu erschließen
Deinem Dich innigstliebenden Neffen
Willibald.
II. Im Sommer
Nein bester, mein theuerster Gnkel!
„Die lvelt wird schöner mit jedem Tag,
Id) weiß nid)t, wie das werden mag."
Id) weiß nidst, warum mir diese Verse jedesmal dnrd) den Aopf gehn,
wenn tnich meine Zimmerfrau fragt, wann ich endlich einmal die
fällige Miethe bezahlen werde?
„G schauen Sie dod) hin, liebe Frau Müller," ruf' ich ihr zu, „wie
herrlich die Lerd)en trillern und die bunten Rosenbüsche sd)illcrn. Fassen
Sie es denn noch immer nicht, das unendliche Wunder der Natur?" -
„Ihna fass' i, wann S’ murgen nit zahl'n!" erwidert sie wüthend.
Ach Gnkel, so sind die Menschen, so wenig eingewurzelt ist der Sinn
für die Schönheit der Erde in den Herzen der großen lilasse. So z. B.
geb' ich mir schon seit längerer Zeit die erdenklichste Mühe, in dem ver-
schlossenen Herzen meines Sd)neiders den Sinn für die Poesie
der Mondnacht und das Athmen des Weltgeistes wad)zurufen
umsonst! Er verweigert beharrlich die Anfertigung eines neuen Anzuges
ohne Baarz ah lung. Erst heute, da ich so frei war, ihn direkt an Dicb
zu verweisen, lieber Gnkel, hat er begonnen, feine Seele höheren Idealen
znznkehrcn und die Anfertigung des Anzuges zu versprechen.
Ach, Gnkel, wie soll ich Dir es schildern, wie sehr meine Seele vor
Schönheitsdnrst lcd)zt. Manchmal wird mir dabei so heiß, so fürchter
lid) heiß, daß id; unter „8 Halben" nicht existiren zu können vermeine.
Aber id; bin überzeugt, Deine schönheitsdurstige Seele wird meine schön
heitsdurstigc Seele nicht verlechzen lassen und ihr bald mit einem entsprechen-
den Znsd)uß zu Hilfe kommen.
Dein Dich wahnsinnig anbetcnder Neffe
Das Zeichen der Zeit
F, Valloton (Farin)
A14
Willibald.