1902
JUGEND
Nr. 25
III. 3m I)crbst
Mein bester Gnkel!
Der perbst ist das Zymbal des
Zerfalles. Oie Blumen zerfallen,
die Blätter zerfallen, die Jugend-
träume zerfallen, und in ein An-
zug und meine Stiefel zerfal-
len ebenfalls. Stundenlang fitz'
ich am Fenster und sehe dem allge-
meinen Zerfallen zu und denke dabei
au Dich, geliebter Gnkel! Gibt cs,
um symbolisch zu sprechen, einen
melancholischeren Anblick als ein
Paar zerrissene Posen oder einen
Lawu Tennis-Anzug, von dem
Rock und Weste versetzt sind?
So ist es mit der ganzen Natur.
Wo Du hinblickst, Absterben, pin-
welken. Wie wohl thut es doch in
solchen Momenten, sich zu erinnern,
das; ein gleichgesinntes per;, wenn
auch durch punderte von Kilometern
getrennt, mit uns fühlt, und Freud'
und Seid in baar mit uns theilti
Ich weiß, daß Du mich auch dies-
mal verstehen wirst, vielgeliebter
Gnkel, und schließe mit der Bitte
»in ein recht ausgiebiges verständniß
als Dein bis in den Tod getreuer
Reffe
Willibald
IV. 3m Minier
Edelster, geliebtcster Gnkel!
Der Winter ist gekommen... Die
Fenster klirren, die Balken krachen
und meine Zimmerfrau verliert die
Zähne. Ach, es ist eine entsetzliche
Stimmung, so allein in der todteu,
erstorbenen Welt zu stehn und zu
frieren. wie oft sage ich zu mir
selbst: „Ach, wärest Du jetzt in pintcr-
indieu oder Brasilien, wo die Sonne
des Südens strahlt, wo der Mensch
keine Frühlingssehnsucht, keinen
winterrock und keine Koh-
le» braucht!" — Aber dann,
wenn ich aus meinen Träumen er-
wache, dann bemerke ich zu meinem
Entsetzen, daß ich weder in pinter-
iudien bin noch in Brasilien, sondern
im rauhen Norden, wo der Man-
uel au Kohlen das perz er-
beben macht. Ach, wie oft über-
kommt mich der Drang, auf einer
glatten Eisfläche dahinzugleiten, um
die Sterne am Firmament zu befra-
gen, was sie über die Vergänglichkeit
alles Irdischen wissen —- und doch!
Nie wird mein Auge die Räthsel
der Sternenwelt entsiegeln, solange
ich keine Lisschuhe habe!
Nicht wahr, lieber Gnkel, es zer-
reißt Dir das Perz, wenn Du sichst,
wie alles Ideale auf dieser Welt mit
dem Materiellen verknüpft ist? —
Tröste Dich, lieber Gnkel! Auch m i r
geht es so!
Litt baldiges Lebenszeichen von
Dir erwartend, grüßt Dich herzlichst
Dein treuer Neffe
Willibald
NB. Da das Porto für 200 Gul-
den nicht höher komnit, als für
;oo Gulden, so bitte ich gleich 200
Gulden zu schicken.
Tl'lllll
Oie kleine ©heater-Orinzessin
E. Blanche (Paris)
JUGEND
Nr. 25
III. 3m I)crbst
Mein bester Gnkel!
Der perbst ist das Zymbal des
Zerfalles. Oie Blumen zerfallen,
die Blätter zerfallen, die Jugend-
träume zerfallen, und in ein An-
zug und meine Stiefel zerfal-
len ebenfalls. Stundenlang fitz'
ich am Fenster und sehe dem allge-
meinen Zerfallen zu und denke dabei
au Dich, geliebter Gnkel! Gibt cs,
um symbolisch zu sprechen, einen
melancholischeren Anblick als ein
Paar zerrissene Posen oder einen
Lawu Tennis-Anzug, von dem
Rock und Weste versetzt sind?
So ist es mit der ganzen Natur.
Wo Du hinblickst, Absterben, pin-
welken. Wie wohl thut es doch in
solchen Momenten, sich zu erinnern,
das; ein gleichgesinntes per;, wenn
auch durch punderte von Kilometern
getrennt, mit uns fühlt, und Freud'
und Seid in baar mit uns theilti
Ich weiß, daß Du mich auch dies-
mal verstehen wirst, vielgeliebter
Gnkel, und schließe mit der Bitte
»in ein recht ausgiebiges verständniß
als Dein bis in den Tod getreuer
Reffe
Willibald
IV. 3m Minier
Edelster, geliebtcster Gnkel!
Der Winter ist gekommen... Die
Fenster klirren, die Balken krachen
und meine Zimmerfrau verliert die
Zähne. Ach, es ist eine entsetzliche
Stimmung, so allein in der todteu,
erstorbenen Welt zu stehn und zu
frieren. wie oft sage ich zu mir
selbst: „Ach, wärest Du jetzt in pintcr-
indieu oder Brasilien, wo die Sonne
des Südens strahlt, wo der Mensch
keine Frühlingssehnsucht, keinen
winterrock und keine Koh-
le» braucht!" — Aber dann,
wenn ich aus meinen Träumen er-
wache, dann bemerke ich zu meinem
Entsetzen, daß ich weder in pinter-
iudien bin noch in Brasilien, sondern
im rauhen Norden, wo der Man-
uel au Kohlen das perz er-
beben macht. Ach, wie oft über-
kommt mich der Drang, auf einer
glatten Eisfläche dahinzugleiten, um
die Sterne am Firmament zu befra-
gen, was sie über die Vergänglichkeit
alles Irdischen wissen —- und doch!
Nie wird mein Auge die Räthsel
der Sternenwelt entsiegeln, solange
ich keine Lisschuhe habe!
Nicht wahr, lieber Gnkel, es zer-
reißt Dir das Perz, wenn Du sichst,
wie alles Ideale auf dieser Welt mit
dem Materiellen verknüpft ist? —
Tröste Dich, lieber Gnkel! Auch m i r
geht es so!
Litt baldiges Lebenszeichen von
Dir erwartend, grüßt Dich herzlichst
Dein treuer Neffe
Willibald
NB. Da das Porto für 200 Gul-
den nicht höher komnit, als für
;oo Gulden, so bitte ich gleich 200
Gulden zu schicken.
Tl'lllll
Oie kleine ©heater-Orinzessin
E. Blanche (Paris)