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Nr. 26

JUGEND

1902

Oie I^aide

H. Nauen (Stuttgart)

Das Craumklrchlein

Wißt, wenn meine Mutter mich neckt.

Sagt sie: Hannes, der Architekt!

Seitdem ich träumend mir ins Blaue
Tiesverwunschene Schlösser baue.

Jüngst Hab ich zwischen Tag und Rächt
Wieder was Schimmerndes fcrtiggebracht,
Allen Prälaten ein Lrempel:

Ist eine Kirche oder ein Tempel.

Größer kaum als dies Gedicht.

Doch tief in der Sonne und recht voll Licht,
Und blühn auf allen Fenstergläsern
Weiße Glocken aus zarten Gräsern.

Die Teppiche weiß und weiß die Wand
Und zart wie eine Frauenhand,

Und fragt ihr nach dem Hochaltäre:

Ich habe keinen, Gott bewahre!

Die Glocke läutet mild vom Thurm
Und läutet sanft und ohne Sturm,

Daß nach dem Ave auch die Blinden
Den Weg durch all die Sonne finden.

wer aber in dies Kirchlein will,

Muß recht zufrieden sein und still,

Ueber Herzen mit zuckenden Flammen
Stürzt das ganze Kirchlein zusammen.

fians Müller

Hypothesen t376

®eber der Erdscheibe lagerte Zwielicht. Der
Westen erquickte sich noch ahnungslos an der
Abenddämmerung des untergehenden Tages, der
wie mit unvergänglichem Glanze die Welt erhellt
hatte, während in den voll erdunkelten Gstcn
schon das neue, nie gesehene Nachtgestirn sein
räthselhastcs Licht warf. Goldgriinlich schimmerte
der herrliche Stern, und wie ein Strom des Segens
quoll hinter ihm her der riesige Schweif, halb
aufwärts in die Unendlichkeit zuriickgebogen und
den Weg noch fegend, auf dem ihn die Gnade
Gottes Hergetrieben hatte.

Aber niemand sah ihn.

Nur drei graubärtige Könige machten sich auf
aus dem äußersten Morgen, um den zu suchen,
der sie wieder zu Kindern machen solle, und den
ksirten auf dem Felde öffnete der gastliche Strahl
die Fnnkelthore des Firmaments und hüllte sie
ein in Gloriagesänge, in den himmlischen Reigen
der Zebaoth. Und sie gingen eilend zu der Stätte,
da der goldgrüne Stern oben über stand, und sie
beteten an, und glaubten.

*

* *

Manches Jahrhundert war von den Bergen
ins Meer geflossen, da kam er wieder. Diesmal
glühte er brandroth, und seine Ruthe sprühte, als
ob er Blut verspritzte.

Und alle sahen ihn.

Aber dann geriethen sie i» Angst. Sie redeten
mit einander von Kaiser und Papst, von Türken
und Mongolen, von Feuer und Pestilenz, vom
Antichrist und dem tausendjährigen Reiche. Sic
vergruben ihre lsabe, sie schleuderten die Silber
münzen ungezählt in den Schoost der Mönchskutten,
sie prüften die Schlösser an den Thüren und die
Läden an den Fenstern und verrammelten die
Thore der Städte. Sie nahmen den Stab in die
lsand und pilgerten barfuß gen Rom oder Jeru-
salem, sie rotteten sich zusammen und zogen
nackend von Vrt zu Grt, indessen das Blut ihnen
unter den Schlägen der Geißel den Rücken hinab-
lief und auf den ausgedörrten Waden gerann
Der Ejirte aber, wie sie ihn nannten, stand auf
der Kanzel und donnerte seine Anathemata hinai
auf den Pfuhl der sündigen Gesellschaft, die ihn
gesenkten ksauxtes lautlos umstand, wirklich so
stumm wie ein Pfuhl, dessen Frösche das Klatschen
des Steinwurfes niedergescheucht hat. Alle beugten
lqaupt und ksirn, und glaubten, und zitterten.

»

» »

Etliche Jahrhunderte später kam er wieder
einmal in unsere Weltgegend. In energischem
weißgclbeni Lichte bei Nacht, matt, kaum sichtbar
bei Tage, schwebte er ruhig über dem Horizont
und ließ sich geduldig durch hundert langgestreckte
Fernrohre betrachten und auf tausend photogra
phischcn Platten fixieren.

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Register
Heinrich Nauen: Die Haide
Hans Müller: Das Traumkirchlein
Gustav Kühl: Hypothesen
 
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