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Nr. 46

1905

„Vorwärts"-^clyUe

Rosa: „Bebel sei Dank, daß die ethisch-
ästhetische Bande endlich rausgeschmissen ist!"

O

Bibel und Bebel

Und wieder tagte in der Mark
Die Provinzialsynode.

Man untersuchte glaubensstark

Der tfirten Lehrmethode.

wir sind, so hieß es, duldsam hier,

Die freie Forschung achten wir.

Ilnd wir betonen fort »nd fort:

Frei ist das Wort!

Doch wenn ein Hirt in dieser Welt
Den Glauben läßt erkalten,

Und er nicht das für richtig hält,
was wir für richtig halten,

Dann muß man diesem Kirchenlicht
Eröffnen väterlich und schlicht:
wir sind die Herren hier im Haus!

Nu aber raus!

Es brach für unsere Freiheit an
Ein neuer Lenz, ein Maitag.

In Jena war's, da kämpfte man
Für sie auf dem Parteitag.

Der freien Meinung freie Bahn,

Tod dem ererbten Köhlerwahn!

Hier schall' es und an jedem ö)rt:

Frei ist das Wort!

Doch wenn sich gegenüber stellt
Ein Redakteur uns Alten
Und er nicht das für richtig hält,
was wir für richtig halten,

Dann han'n wir diesem frechen Fant
Ins Maul mit treuer Bruderhand.

Wir bitten uns das eine aus:

Nu aber raus!

M seht zwei edle Brüder, die
Sonst eigne Wege wandeln,

An Duldsamkeit nur gleichen sie
Sich wie ein Ei dem andern.

G seht und staunt, daß Gott erbarm':
Stöcker und Bebel Arm in Arm!

V seht und staunt und ruft: o Graus!
Nu aber raus! Frirt

»

Dem Verdienste seine Rrone

Bülow: „.. . Daß ja bei der neuen Drdcns
liste der sozialdemokratische Parteivor-
stand nicht vergessen wird!"

JUGEND

Freu' Dich, Gaxern!

Die Leulrumsmehrheit im bayrischen Landtag be-
harrk beim Wahlgesetz auf dem ungerechten Prinzip
der relativen Mehrheit, um sich auf unabsehbare
Ieit die Herrschaft zu sichern.

Nun kann die Grobheit Feste feiern,

Nun kriegt die Dummheit baaren Werth:

Des Centrums Herrschaft ist in Bayern
Fortan in Permanenz erklärt!

Die Macht, die Götter selbst vergebens
Bekämpfen, hat auch hier gesiegt.

Die letzte Regung freien Lebens,

Gesunden Geistes unterliegt!

Sie stemmen zornig wie die Eber
Sich in den Weg des Fortschritts Lauf —
Das Volk der Heuchler und der Streber,

Bald kommt cs glorreich obenauf!

Laßt schleunigst neue Kirchen bauen,

Die alten werden viel zu klein:

Am Sonntag stürmt aus allen Gauen,

Was vorwärts kommen will, hinein!

Beichtzettel werden stott gehandelt
Zur Osterzeit von Alt und Jung,

Nur wer mit Prozessionen wandelt,

Hat Aussicht auf Beförderung!

Der Demagogenton wird Regel,

Der lieblich schon im Landtag haust —

Bald droht der subalternste Flegel
Dem Vorgesetzten mit der Faust !

Und denunziert wird auch nach Noten
llnd spioniert noch mehr, als jetzt -
Es blüht der Weizen jedes Knoten,

Der auf die Liberalen hetzt I

Um Schädel von der ärgsten Leerheit
Erstrahlt der Titel: Exzellenz —

Hurra! Es ist des Centrums Mehrheit
Fortan erklärt in Permanenz!

, .1 iitfond“

TanzvergnügeninMoabit. FräuleinJsa-
dora Duncan ist des Widerstandes gegen die
Staatsgewalt angeklagt; sie ist in diesem Verfahren
schon zweimal nicht zum Termin erschienen, tveil
sie sich angeblich ans einer Tanztonrnee im Aus-
land befand. Skeptiker argwöhnen, sie habe an den
Terminstagen nicht im Auslände, sondern im In-
lands und zwar auf den Nasen ihrer Richter
herumgetanzt.

0

Kunstreisen. Das Denkmal von Helmholtz
soll aus dem Vorgarten der Berliner Universität
auf einen anderen Platz versetzt werden. Damit
wird in das sehr entwickelte Kunstleben Berlins ein
neuer Faktor eingeführt: Das Nun d reise den k-
Uial oder die Wanderstatue. Daß die Statuen
immer auf einem und demselben Fleck stehen, ist
nicht nur für sie, sondern auch für die Beschauer lang-
weilig; außerdem sind sie auf diesem einen Fleck
nur einer beschränkten Menschenmenge zugänglich.
Es wird sich deshalb empfehlen, die Berliner Denk-
mäler so eiuzurichten, daß man sie auch in die Pro-
vinz schicken kann, wo sie dann Tournsen antretkn
können. Dies würde auch den Vortheil haben, das;
man in Berlin au Denkmälern ein stets wech-
selndes Programm bieten könnte, wieimWin-
terg arten.

Ein unangenehmes Mißverständnih. Als
Singer Uber der Kündigung der t> Vorwärts-
redakteure saß, trat Rosa Luxemburg ins Zim-
n;er. Sie sprach: ,,Genosse, vergiß die Treulosen.
Komm' her, Paul, ich reiche Dir meine Hand; wenn
Du willst, bin ich Dein für immer. Ich werde Dir
bis zu meinem Tode die Treue beivahren. Ich biete
mich Dir selbst an, Du brauchst nur Ja zu sagen,
nimm mich —" Singer verfärbte sich und sank bleich
in seinem Stuhl zurück — „nimm mich als Re-
dakteur des.Vorwärts' an!" — „Gern, gern,
liebe Genossin," erividerte Paul aufathmend, während
das Blut in seine Wangen zurückkehrte, „aber wie
kannst Du eine» so erschrecken!"

Eine Proklamation

Döronlöde, der Barde, hat am Tage seiner An-
kunft in Paris folgende Proklamation an die Fran-
zosen erlassen:

„An Mein Volk!

Der 5. November ist erschienen. Mitbürger, Ich
habe Frankreich wiedergesehen! Und nichts hat sich
geändert, es ist nur ein Franzose mehr in Frank-
reich.

Ich habe das trockene Brod des Elends, das
zähe Filet der Verbannung, das harte Omelette der
Einsamkeit gegessen! Ich habe Schmerzen erduldet
und Thränen geweint! Ich weilte Jahre lang in
Spanien, und die blöden Spaniolen haben Mich
nicht einmal zum König gekürt. Ich ging nach Wien,
um dort die österreichische Sprache zu lernen, und
als Ich sie gelernt hatte, mußte Ich erfahren, daß
cs deutsch war. Ich halte Meinen rachedustcilden
Mund mit deutschen Worten verunreinigt! Aber
erschreckt nicht, Mitbürger, Ich habe inzivischen meinen
Mund mit unsiltriertem Seinewasser desinfiziert,
und die Schmach weggcspiilt.

Freue Dich, Frankreich, Döronlede ist
lvieder da! Du bist nicht inehr schutzlos in
Europa!"

ZivilisationundBarbarei. FürstBülow
hat die Bürgermeister in der Fleischnothfrage
höflich empfangen und ihnen versprochen, ihre Er :
klär n n gen i n lv vhlw olle ndeEr wäg n n g z u
ziehen.

„Ich Esel", sagte der Sultan, als er dies las,
„warum habe ich die sechs Botschafter der Groß-
mächte in der Macedonischen Frage nicht höflich
empfangen und ihnen versprochen, ihre Erklärungen
in wohlwollende Erwägung zu ziehen?"

*

Oie nackte Oympke

Line Marmorkopie der Lauer'schen wasserschöpfen-
den Aymphe wurde auf Andrängen des Pfarrers
Lngelhardt und auf Veranlassung des Bürgermeisters
Reff aus dem Schaufenster der Firma Carl Hilsdorf
in Bingen entfernt.

Die wafferschöpfeude Nymphe von Lauer?
Erweckt eine Gänsehaut, eine» Schauer
vom Scheitel bis hinab in die Strümpfe,
Dieweil sie so nackicht ist, die Nymphe.

Sie macht die Seelen, meint Engelhardt,

Der Schulmädcl und der Bengel hart,

Auf die sein ganzer Sprengel harrt,
verdorben werde ihr Herz und ihr Sinn
Durch Eauer's Wasserträgerin.

Da wandt' er sich an den strengen Ehef
Der Gemeinde, den Bürgermeister Neff,

Der hat mit gerechter sittlicher Pfand
Die Nymphe in den Keller verbannt,

Wo sie in Dunkel gebettet ist,

So daß ganz Bingen gerettet ist.

Also entging mau dort den Schlingen
Der Teufelinne, der nackten Nymph'.

Dies ist gescheh'n in der Kreisstadt Bingen
Iin Jahre zyos. Frtdo

Und der Strauß muß heftig drücken
— bis auch dieses Ei gelegt...!

(Nach "Wilhelm kusch)
Register
[nicht signierter Beitrag]: Zivilisation und Barbarei
Arpad Schmidhammer: Der produktive Nikolaus
[nicht signierter Beitrag]: Tanzvergnügen in Moabit
Erich Wilke: "Vorwärts"-Idylle
Frido: Bibel und Bebel
Redaktioneller Beitrag: Freu' Dich, Bayern!
[nicht signierter Beitrag]: Eine Proklamation
[nicht signierter Beitrag]: Dem Verdienste seine Krone
Frido: Die nackte Nymphe
[nicht signierter Beitrag]: Ein unangenehmes Mißverständniß
[nicht signierter Beitrag]: Kunstreisen
 
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