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„Das Glück ist eine leichte Dirne . .

Witwe den verstorbenen Gatten sehen, ohne
mir irgendwie unbequem zu werden, denn der
Raum wurde von mir fast nur während der
Mahlzeiten betreten.

Und noch ehe ich ihr begegnet, umgab ich
sie schon mit der Vorstellung der Schönheit und
Anmut, dichtete ich ihr tausend gute Eigen-
schaften an, die mir jedes Wort, jede Wendung
ihrer Briefe, ihre schöne Handschrift, ihr Parfüm
zu verraten schienen.

Beharrlich hoffte ich auf ihr Erscheinen, aber
Tage vergingen umsonst, immer wieder umsonst.

Da sagte mir der Diener, als ich eines Mittags
nach längerem Spaziergang meine Wohnung be-
trat, sie sei dagewesen, habe gebeten, die Bronze
zu sehen und in stummem Schmerz die Arme
um die Schultern des Bildwerks geflochten.
Lange habe sie so gestanden, dann sei sie, ohne
sich umzukehren, ohne etwas zu sagen, rasch
wieder gegangen.

„Wie sah sie aus?" forschte ich.

Der Diener zuckte die Achseln. „Ich weiß
nicht," meinte er, „die Dame trug einen dichten
Schleier. Nur als sie die Bronze umhalste,
schob sie ihn in die Höhe. Aber ihr Gesicht
konnte ich nicht erkennen, nur das rotblonde
Haar unterm Hut."

Rotblondes Haar, meine Lieblingsfarbe!

Ich fragte den Diener weiter, ob und wann
die Dame wiederkommen wolle. Doch auch
darüber wußte er nichts zu sagen, sie hatte ja
nicht mit ihm gesprochen.

Wie verwünschte ich den Zufall, der mich
gerade während ihres Besuches hatte in den
Englischen Garten gehen lassen! Und ich schwor
mir zu, vormittags daheim zu bleiben, bis ich
sie getroffen.

Warum in aller Welt interessierte mich das
alles? Oester schalt ich mich einen Narren,
aber wenn ich unter meinen Sachen saß, ein
Buch zur Hand nahm oder im Schreibtischfach
ihre blauen Briefchen mir unversehens in die
Finger glitten, beharrlich kreisten meine Ge-
danken um sie.

Acht Tage später klingelte es, zum hundertsten
Mal horchte ich auf. Der Wohllaut einer weib-
lichen Stimme! Gleich danach klopfte der Diener
bei mir an, und ich wußte, was er zu melden
hatte. Die junge Dame war erschienen, der
Bronze ihren Besuch zu machen.

Ich ließ ihr sagen, mein Speisesaal sei leer,
sie möge ruhig eintreten und verweilen, solange
sie wolle.

Ferdinand Staeger (München )

Während ich mich drüben auf dem Diwan
aufsetzte, hörte ich leichte, fast zögernde Schritte
vom Gang her, das Leffnen der Tür hier hinter
dem Vorhang, dann das Rauschen eines seideneu
Rockes.

Diese unbekannte junge Frau war das erste
weibliche Wesen, das meine Wohnung betrat.
War's da ein Wunder, daß nach der Neugier,
der mitleidgemischten Erwartung, mit der ich
ihrem Besuch entgegengesehen, sich eine heimliche
Erregung meiner bemächtigte? Was hätte ich
darum gegeben, wenn ich vom Wohnzimmer her
einen Blick durch den Vorhang hätte werfen
können!

Um meine Anwesenheit nicht zu verraten,
saß ich ohne mich zu regen, fast ohne zu atmen,
starrte auf die Falten des Stoffes dort, und
lauschte den leisen Tönen, die vom Nebenraum
zu mir hereindrangen.

Erst blieb eine Weile alles ruhig, ich hörte
kein Gehen mehr, kein Rascheln des Kleides.
Dann, — es klang ein leiser Kuß und noch
einer, — und dann kam ein ersterbender Ton
zu mir, wie unterdrücktes Schluchzen.

Da konnte ich nicht länger auf meinem
Platze bleiben. Leise erhob ich mich und zog
geräuschlos den Vorhang etwas zur Seite.
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Ferdinand Staeger: Das Glück ist eine leichte Dirne...
 
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