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Der Gänsehirt

Albert Weisgerber lJ

Nachtfahrt

Ein Film

von Fritz von Ostini

In einem eintönig holpernden Zweivierieltakt
jagte der Schnellzug durch die Iulinacht und die
Räder hämmerten Anapäste über den Schienen-
stößen. Im Abteil war es drückend schwül, weil
wir die Fenster hatten schließen müssen. Der West-
wind hatte Wolken von Rauch und Kohlenstaub
hercingejagt. Jetzt fühlt man die Haut an Ge-
sicht und Händen klebrig feucht.

Fahrgäste waren gekommen und gegangen.
Im Augenblick befand sich außer mir nur noch
Einer im Abteil, ein dicker, unausgesetzt qualmen-
der Herr, der sich eine Zigarre an der andern an-
gezündet hatte. Es war kaum mehr zu atmen in
dem engen Raum. Zuletzt mußte mein Geführte
selbst husten und legte die Zigarre weg. Endlich
hielt der Zug, wir öffneten eilig Fenster und Türe,
und der durchziehende Nachtwind fegte die Luft rein.

Lürni wurde laut jetzt draußen auf dem schma-
len Gange des Wagens. Der Schaffner wies einen
livrierten Bedienten herein, der ein paar neue Hand-
koffer aus Krokodilhaut und eine Hutschachtel ins
Netz hob und schnell wieder zurücktrat.

Ein Paar erschien:

Ein großer, schwerer Mann, Vierziger vielleicht,
der in schnarrendem Ton mit dem Schaffner und
dem Bedienten zankte. Und eine offenbar junge,
verschleierte Frau. . . .

„Ich hatte doch ein ganzes Coupö bestellt —
das ist ja eine blödsinnige Bummelei! Skandal!"

„Der Zug ist überfüllt, Durchlaucht." —

„Können Sie denn die Leute nicht anderswo
untcrbringen?"

Aäisclzucken. Die „Leute" waren wir, der dicke
Herr und ich!

„Die Herrschaften haben ihre Plätze bezahlt,"
sagte der Schaffner kurz und ging.

„Mir egal I Ich habe ein ganzes Coupö be-
zahlt — Nichtraucher! Und hier stinkt es nach
schlechten Zigarren."

Der dicke Herr in der Ecke wollte auffahren.
Dann besann er sich, lächelte, ließ sein Benzin-

feuerzeug aufklappen und zündete sich die wcg-
gelegte Zigarre wieder an.

Die Dame, die nun auch cingetreten war, legte
beschwichtigend die Hand auf den Arm ihres toben-
den Begleiters: „Aber sei doch still! Wir haben
ja Platz."

Er brummte weiter. Sie nahm den Fenster-
platz, mir gegenüber ein. Ihr Gatte — das war
der hochmütige Herr offenbar — setzte sich neben
mich — sein Gegenüber war der dicke Rancher.
Der Neuangekommene erhob sich bald wieder, zog
das Vorhängchcn der Coupölampe auf unserer
Seite herab, ohne Jemanden um seine Zustim-
mung zu fragen, schob sich die Reisemütze weit
ins Gesicht und lehnte sich in die Ecke, wie einer,
der schlafen will. Die Ehegatten wechselten kein
Wort mehr miteinander.

Und der Zug ratterte durch die Nacht, immer
im gleichen Zweivierteltakt, den nur hin und wieder
ein paar unregelmäßige Stöße unterbrachen, wenn
wir durch die Weichen einer kleinen Station jagten.

Im Abteil war es jetzt ganz still und noch
schwüler als zuvor. Die beiden andern Herrn
schienen zu schlafen, das heißt, mein Nachbar schlief
bestimmt — er schnarchte.

Ich schielte nach ihm hinüber: ein nicht schlecht
geschnittenes, aber gedunsenes und ein wenig ver-
wüstetes Gesicht. Die starke Röte der Haut konnte
vom Wein, aber auch vom Aufenthalt in freier
Luft kommen — vielleicht von Beiden. Ein Trin-
ker? Ein Jäger? Ein Offizier? Der dünne
Scheitel und ein blondes Schnurrbärtchen waren
wohl gepflegt.

Nun sah ich die junge Frau, die mir gegen-
über saß, an. Sie hatte den Hut abgenommen
und ins Netz gelegt. Der Schein der halb abge-
blcndetcn Lampe fiel voll auf ihr feines, mädchen-
haftes Gesicht. Es war vornehm, schmal, bleich,
bewegungslos — und doch waren es Züge, die
Leben und Rasse verrieten. Die Bogen der Brauen
setzten als feine Striche an den Schläfen an und
wurden gegen die Nasenwurzel zu breit und dicht.
Die Lippen erschienen fest aneinander gepreßt. Die
Augen waren von sehr langen Wimpern umsämnt
und auf den geschlossenen Lidern lag so tiefer
Schatten, daß es faßt wirkte, als schaue die Frau

mit glanzlosem dunklen: Blicke vor sich hin —
wie jener Christuskopf von Gabriel Max.

Nach und nach aber kam Leben in das starre
Gesicht, wechselnder Ausdruck: Schmerz — Haß
— Bitterkeit — schienen einander abzulösen auf
diesen Mienen. Bald zuckte etwas darüber hin
wie ein Wetterleuchten von Leidenschaft, dann
wieder wie ein Blitz von höhnischein Lächeln.
Eitle feine fenhredjte Falte zwischen den Brauen
blieb unverwischt bestehen. Die Frau saß ganz
ohne Bewegung, die Hände lagen gefaltet in ihrem
Schoß. Sie schlief nicht — sie quälte sich mit
Gedanken.

Pfeilschnell rollte der Zug mit feinem eintöni-
gen taktmäßigen Poltern dahin, das die Nerven
ermüdete und mich doch nicht schlafen ließ. Oder
war es die Frau, die daran Schuld war, daß
mich der Schlummer floh. Mit rätselhafter Macht
Sogen mich die beschatteten Attgen immer wieder
an. Aber nicht das Weib fesselte mich, sondern
der Mensch. Das da, vor mir in den roten
Plüschpolstern — das war ein Schicksal!

Dieser Halbunsinn fuhr mir durch den Kopf
und mit einem Male geschah etwas Seltsames:
cs war, als ob die Augen der jungen Frau durch
den Schatten ihrer geschlossenen Lider heraus-
leuchtelen — nicht Augensterne, wie sie sonst wa-
chende Menschen haben, sondern lichtblaue, phos-
phoreszierende Ringe, die starr auf mich gerichtet
schienen! Der Blick kam aus ganz, ganz weiter
Ferne.

Und noch seltsamer: nach einiger Zeit war es,
als begänne die Frau zu erzählen, wenn auch
ihre Lippen festgeschlossen blieben. Aber ein rich-
tiges Erzählen — freilich — war's doch nicht.
Es waren Gedanken und Bilder, dis ihr ange-
spannter Wille in mein Gehirn übertrug und deren
Sinn ich empfand, ob er gleich nicht in die Form
der Rede gegossen war. Es war eine Erzählung
ohne Worte, wie die Bilder im Lichtspiel zog die
Geschichte dieser Frau vorbei, im wilden Rhythmus
der rollenden Räder drang sie auf mich los. . . .

„Ich kenne dich nicht — ich sehe dich nicht
einmal — ich will nichts von dir. Ich will nur,
daß irgend ein Mensch von meinem Schicksal und
meinem Jammer weiß. Und nun sieh: „Ein sehr
Register
Albert Weisgerber: Der Gänsehirt
Fritz Frh. v. Ostini: Nachtfahrt
 
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