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Neuerung

Eine Groteske von A. M. Frey

n

Oer Dortragssaal, wie er sich bisher geboten hatte, war ganz unzulänglich -
war so unmöglich, daß nur stumpfsinnige Gewöhnung es erklären konnte, wieso
Menschen sich fanden, die ohne Schaudern in ihm atmeten. Er war ledern, er
war steißtrommlerhast, er war „ein Klassenzimmer", in dem unten in verängstigten
Leihen die Schüler sich zu ducken hatten - oben auf dem Podium führten Macht-
haber ihr wüstes Dasein. Der Dortragssaal war kommißstiefelmäßig mit leinen
in Gruppenkolonnen aufmarschierten Holzskeletten, die bereit waren, sich um die
Besucher festzukrallen. Gibt es etwas Trostloseres und Drohenderes als diese
aufmarschierten leeren Stühle in endlosen Gliedern, die zum Podium empor-
fluchen und weinen, man möge sie entlassen, - man möge ihnen erlauben, sich
zwanglos zu gebärden, man möge ihre verkrampfte Kette lösen?

Ganz natürlich, daß ein tyrannisch veranlagter Bariton, der früher Oberlehrer
gewesen war, angesichts der aufreizenden räumlichen Anordnungen eines Abends
in sein altes Handwerk zurückfiel. Er rief einem unachtsamen Besucher, der zwischen
Liebesliedern mit seinem Nachbarn schwatzte, zu: „Ich lasse Sie nachsihen, wenn
Sie weiter den Unterricht stören!"

Solch peinvolle Zwischenfälle mußten in Zukunst vermieden werden. Derbannt
sei aus dem Konzertsaal der grauenhafte Dunst der Schule. Oer Dortragende
trage hinaus und hinauf. Oer Dienstraum verschwinde!

Die Agentur ging ernstlich zu rat. Sie bemühte sich um Vorschläge zu grund-
legender Neuerung.

Oer plan mit der großen Glasscheibe blieb unausgeführt. Er hatte vorgesehen,
eine geräumige Glasfläche von beträchtlicher Dicke an vier kräftigen Seilen frei
im Konzertsaal pendeln zu lassen - ein paar Meter über den Köpfen der Ge-
nießenden. Diese sollten in regellos gepflanzten Liegestühlen mit Verstellvor-
richtungen, wie sie die zahnärztlichen Sessel haben, je nach Wunsch mehr oder
weniger wagrecht ruhen und so den Worten und Tönen lauschen, die. über ihnen
auf der Glasscheibe sich bildeten und ausströmten. Das durchsichtige Material der
Fläche, auf dem der Vortragende, der Flügel, der Geiger, die Sängerin standen,
erlaubte dem Besucher von jeder Stelle des Saales aus, den Vorgängen dort
oben auch mit den Augen zu folgen. Zn reizvollen Brechungen, durch das dicke
Kristallglas hindurch, hätte man unter Gesichtswinkeln, die völlig neu waren, Arm-
bewegungen, Schritte, Mienen erlebt. Besondere Kostüme der weiblichen Künstler
wären dieser Neugestaltung des Dortragsraumes naturnotwendig entsprossen.

Oie Vortragenden sollten durch eine Klappe an der Saaldecke auf die hoch-

gezogene Glasfläche treten und dann langsam in den Saal niederschweben, wo-
durch auch ein apartes Zeichen für den Beginn feierlich erfolgt wäre: Oie Kunst
senkt sich nieder aus ihren Höhen auf Erschauernde und willig Hingegebene. Nach
starkem Beifall wäre für den Künstler Gelegenheit gewesen, sich durch das Glas
zutiefst und würdigst in den Saal hinab zu verbeugen.

Aber dieser plan wurde verdrängt durch den Gedanken des rundrollenden
Saalbodens. Zuerst dachte man daran, um eine ruhende Insel, die den Vor-
tragenden gehören sollte, die Flut der Hörer langsam kreisen zu lassen. Es ging
ja nicht an, das alte Podium von einem Ende des Saales einfach in die Saal-
mitte zu verlegen. Mit dem Grundgedanken, den geistigen Mittelpunkt auch räum-
lich zum Mittelpunkt zu machen, war an sich viel gewonnen, jedoch noch nicht
alles. Denn dieser Mittelpunkt birgt Vorder- und Rückseiten, er hat Büste und
Hinterteil, man will nicht einen Abend lang den Nücken einer Sängerin für das
gleiche Geld betrachten, wofür der Nachbar drüben das Wogen ihres Busens in
sich saugt Irgendwie mußte ausgleichende Bewegung geschaffen werden. Go kam
man darauf, die Besucher rollen zu lassen. Aber man kam wieder ab: Es blieben
taube Saalecken,- eine bessere Ausnutzung des Raumes mußte erstrebt werden.

War man einmal so weit, lag die Anregung nahe, die von der Agentur dann
auch durchgeführt wurde: Den mittleren Teil des Saalbodens als Scheibe zu
bauen und rotieren zu lassen. - Llm die Scheibe herum unverrückbar sitzt das
Publikum. Ieder genießt Jedesan- und abschwellend hört er Gesang,- er sieht
das Gchultermuskelspiel des Geigenkünstlers und die Atemtechnik des Afrika-
forschers, die Geste des Politikers vorn und des Politikers hinten. Oer Vortragende
fühlt sich von überhöhter Scheibe hinausgehoben in den Raum,- er bewegt die
Herzen seiner Hörer, sinnfällig bewegt er sich auf sie zu. -

Weshalb die Verwirklichung an ihrem ersten Abend schauervollen Abbruch er-
lebte, blieb unaufgeklärt. Oie Altistin, in ihrem bürgerlichen Leben eine reife
Fünfzigerin, soll vor Zeiten in Beziehungen zu dem Mechaniker gestanden sein,
der unterirdisch das Hebelwerk des kreisenden Bodens bediente, auf dem sie sang.
Man vermutet einen Racheakt dieses über Jahre hinaus dunkel erbosten Menschen.

Jedenfalls wurde der neue Saal mit einem Konzert der weltberühmten
Sängerin Stefania Patina eröffnet.

Ausverkaust und voll beseht, eh' es noch acht ühr war. Ein einziger, ungeheurer
Kronleuchter, im Durchmesser der Scheibe gleich, über der er genauestens hing,
warf mattrote Lichtgarben umher - stürzte abgrundtief in die schwarze Politur

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Index
Julius Diez: Zeichnungen ohne Titel
Alexander Moritz Frey: Neuerungen
 
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