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Vorsiaötmärchen

von Lrnst Hoferichter

Mitten im jungen Frühling ist's. Am Geburtstag der Maikäfer und
Vergißmeinnicht

Auj den Dächern liegen die Betten in der Sonne. Und die Wolken fliegen
wie luftige Sommcrblufen darüber hin. Der Himmel ist mit Wafferfarbe
milchkübelblau ausgemalt.

Drunten im Hof der Mietskaserne ein Ringelreihentanzen um die Rehricht-
tonne. Helle Rindergartenlieder.

Am offenen Rüchensenstcr näht Annie rosafarbene Flanellunterhosen in
Ronfcktion. Zn ihrem apfelgrünen wachsgcficht blühen die ersten Sommer-
sprossen auf. Lin warmer Sonntagskinderglan) kommt aus dem Tiefsten
ihrer Augen.

Raum sechzehn ist sie alt, aber schon voll Mai...

Wenn von der Wirtschaft herauf das Xylophon spielt, ist cs Abend. Dann
läßt sie die Gaslampe zu einem dicken Mond aufleuchten. Über ihr wohnt
eine Hebamme. Zeden Abend klopft sie auf den Fußboden: da muß Annie
hinaufkommen und Bier holen.

Heute sind Vater und Mutter im Gesangverein Singen Radfahrlieder
und Pfingstchoräle.

Und da kann sie wieder aus ihrem Roman lesen. Oer heißt: „Mag auch
das Glück verweh'n ..."

Lr besteht aus giftiggrünen Llnzelheften in hundert Lieferungen. Und ist
voll Revolverfchüfse, geöffneter Gräber, barfüßiger Blumenmädchen, schil-
lernder Hofbälle und angerauchter Spelunken.

Und es kommt darin auch ein Graf vor, der alles bezahlt und allem ent-
geht und gar nicht so stolz ist, wie alle andern seinen Herren um ihn. Und
Annie hat ihn deshalb auch in ihr Herz cingefchloffen. Sie erlebt fein Leben
mit und kann ihm vieles nachfühlen. Hört die Seklpfropfen knallen, wenn
er in Bars sitzt, zittert um fein Glück beim Lottospiel und warnt ihn vor
einer intrigierenden Zirkusdame.

Nachts steckt sie die Hefte unters Ropfklfsen und schläjt auf ihnen. Neben
dem Suppenteller und abendlichen Räsbroten liegen sie so wichtig wieLöffel,
Messer und Gabel herum.

.... Und jetzt ist sie klastertief in jenes Rapitel versunken, wo der Gras
in schwerem Zehntauscndmarkpelzmantel zur Dachkammer des frierenden
Fabrikmädels cmporsteigt. Und ihr alle wünsche erfüllen wird ...

Und Annie sicht durch die Seiten hindurch. Alles um sie her ist zugedcckt •
rmd weggclragen. Ganz verwischt und ausradicrt. Aus dem Ausgußwcchscl
sallen schläfrige wassertropsen — - -

Da hört sie es draußen vor der ilür läuten.

Und öffnet erwartend —

Und im Türrahmen steht lebendig der Graf aus dem Roman...
voll tacksticfelglan; und frifchrafiertem Gcfichlscrglühen. wie von einem
Rinoplakat ausgeschnitten. Lr riecht nach ssuchlenleder und hat am rechten
Auge ein Monokel kleben, so groß wie ein Taschcnfpiegel-

Daran erkennt sie, daß er ein ganz echter Graf ist.

Und alles kommt ihr mit einem Mal wie ausgemacht vor.

Auf schweigsamen Gummisohlen tänzelt er in die Rüche hinein und
jetzt sich aus das geblümte Ranapee, wie in eine Frühlingswiese. Seinen Zy-
linder stellt sie in die Dfendurchsicht.

Ganz so hatte sie sich ihn vorgcstcllt wie das Titelbild eines Toilctten-
seifen-Ratalogs!

— Und jetzt spricht er wie aus einem Grammophontrichter: „Gnädigstes
.. äh müssen vergeben, daß ich mir .. äh sozusagen erlaubte, eine Visite..
äh äh äh.." und dann kratzt cs wie eine abgespielte Platte.

Aber Annie versteht alles nur zu gut:

„ .. © mei', Herr Graf! 3' Hab Zhna ja schon 58p Seiten lang erwartet."

Da lacht er wie ein Teddybär, wenn man ihn auf den Bauch drückt.
Und sie sieht in seinem offenen Mund alles voll Gold, als wär's ein fsuwelicr-
laden Sic kocht ihm Tee, holt Wurst herbei und wärmt geröstete Rartoffcl
auf. von feinem linierten Scheitel tropft Pomadedust auf den Teller. Und
immer küßt er ihr die Hände über den Tisch hin und nennt sie Alinde. Da
wünscht sie sich sogleich zehn Meter Seidenblusenstofs, ein türkisches Himmel-
bett und einen Laubfrosch. Und der Gras deutet nur auf seine Brieftasche.
Die ist so dick wie ein Meßbuch. Und da quirlt ihr Herz, als wär's eine frisch-

geöffnete Brauselimonade, vor Freude und vorauscilender Dankbarkeit zeigt
sie ihm ihre Sonntagsschulzeugnisse und das Photographiealbum mit allen
verwandten Und mit den Blitzlichtausnahmen von einem vcreinsausflug,
mit Glückshafen und Taubcnstechen ...

von der Straße herauf surrt das gräfliche Auto. So — als flögen
Hummeln gegen eine Fensterscheibe.

Sie denkt mit Frohlocken: „sseht kommt die Lntführung auf ein Schloß,
wo die Grafenkroncn wie Christbaumschmuck herumhängen. Und einmal
entführt zu werden ist süßer als Girafstorte.."

Und sie muß nur noch die Wärmflasche füllen. Der Vater hat auch im
Mai kalte Füße.

Dann nimmt sie den Räfig mit ihrem Ranarienvogel untern Arm, steckt
Ramm und Zahnbürste ein.

Und schon treten sic verschränkt, wie ein Brautpaar untcrmTanncnbaum,
über die Schwelle.

Draußen am Gang riecht es nach rauchigen Lampen und angebranntem
Abendessen.

Der Graf hält sich die Nase zu.

Und sie zeigt ihm, wie man an einem Stiegengcländer hinunterrutscht.

vor der Haustür liegt mit einem Mal ein honiggelber Nachmittag. Um
das Auto stehen alle Linwohncr des Hauses als Rnäuel beisammen, wie
um einen entgleisten Trambahnwagcn. Zm Glanz seines Zylinders geht
Annie blicklos durch die zwitschernde Menschengasse. Und ein schwer versil-
berter Lakai reißt den Wagenschlag wie einen Lilbrief auf. Beim Ansteigen
federt 's, als wär's ein neuer Rinderwagcn. Und da sie sich dabei an seiner
scharf eingebügcltcn Hofenfaltc in den Finger schnitt, küßte er ihr die Bluts-
tropfen als Früchtenbonbons auf.

Draußen ziehen Schülerklassen mit Schmetterlingsnetz und Botanijier-
büchse in singenden Prozessionen vorüber. Und Mundharmonikamärsche
rufen zu Schlachten auf.

Aus Wagenfenstern schwirren betrunkene Malkäfer und von Rastanien-
bäumen wiegen Blütcnkerzen herein.

Und da! Liegt ein schreiender Jahrmarkt draußen.

voll Rindertrompetcn.Drgelwalzer und Schießstandknallen. Line klecksig
ausgesüllte Malvorlage. Zerfließende Wasserfarben. „Bittschön! Z möcht
gern a bisserl aussteigen ..." Und der Graf nickt lächelnd ln ihren wunlch
hinein. Da gehen sie, wie Rönigssohn und Gänsemädchen, durch Blechmusik,
Sonnenstaub und schreiende Schncllphotographen. Der Lakai wie ein falsch-
gesetztes Ausrufezeichen drei Schritte dahinter her. Und sie sagt zu ihm, er
soll doch näher kommen, damit die Leute cs merken, daß er zu ihr gehört.
Denn auf ihn sehen sie noch viel mehr hin. Sie kauft Luftballone und Leb-
kuchcnherzcn und bindet sie dem Grafen und dem Lakaien ansRnopfloch. Und
immer, wenn sie einen Wunsch in ihrem Herzen wachsen hört, greist sic in
die gräjliche Manteltasche, die voll von Banknoten angcstopft ist.

„Line Schiffsschaukel..!" schreit sie. Und schon steigt sie mit Graf und
Lakai ln einen Rahn, der heißt „Himalaja".

Auf der Brust eines Schaukelburjchen sieht sie die Göttin Venus eintäto-
wicrt. Rundherum das Sternenbanner „Frisch, Fromm. Fröhlich, Frei!"

Oie Drgel singt heiser das Bienenhaus.

Sie schaukeln Löcher ins Blaue des aufgespannten Himmels hinein Dazu
ißt sie aus der Tasche des Grasen Türkischen Honig, Waffeln und Malzzucker.
Und hat alle Finger klebig wie Fliegenhüte.

Unten liegt die Welt als umgeleerter Baukasten, wie eine buntscheckig
gefleckte Bettvorlage.

Und ihre Wünsche werden wie junge pserde. Ganz unbändig. Oer Graf
muß aus feiner Brieftasche alle Banknoten hinunterschütteln. Da springen
unten die Menschen mit heraushängenden Augen,wie Hunde nach der Wurst
am Faden, in die Höhe. Und stoßen sich gegenseitig die Mahlzeiten aus dem
Magen heraus. Bis ein Bettler, der blind ist, einen Schein gegen die Sonne
hält. Und schreit wie ein Weltuntergang: „Gefälscht..!" Und Tausende
heulen im Takte, als stünden sie a's Chor auf einer Theaterprobe: „Bank-
notenfälfcher! Banknotenfälfcher! Falschmünzer!" Und alle rennen im wett-
lauf auf bas fliegende Schiff zu, auf dem mit goldenen Buchstaben ge-
schrieben steht „Himalaja".

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