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die Droschkentarife wieder um 3OO Prozent erhöht werden, daß das
Wetter morgen zeitweise aufklaren, nicht aufklären, wird, daß der per-
sische Gesandte in Adlon und der argentinische Finanzmann Blaghueira
im Bristol abgestiegen ist, daß wieder einmal ein des Lustmordes Ange-
klagter unschuldig verurteilt worden wäre, wenn man sich auf die Zeugen-
aussagen Jugendlicher verlassen hätte, daß dem Dienstmädchen Emma
Przybilla eine Bewährungsfrist zugebilligt wurde und die Schöffen alle
sehr gerührt gewesen sind. Aber nein, das gibt es nicht, das wird alles
mit zwei oder drei Zeilen abgetan, fast wird es überhaupt unterschlagen.
Aber diese Sportsberichte, diese Voraussagen, das alles muß Seiten
um Seiten fressen, das muß einem immer wieder ins Hirn gerammt
werden, bis man schließlich matt und zerstoßen anfängt, an seine Wich-
tigkeit zu glauben. Ach, eS ist alles so empörend und so naß und so
muffig und so grau und so abgestanden und so trübselig.

Aber da wird es ganz plötzlich hell, da bricht mit einem Mal die Sonne
durch, und während ein Fortgehender für einen Augenblick die Tür öffnet,
hört man das frühlingsfreche Geschrei der Spatzen von der Straße.
Und dieser eine Sonnenstrahl hat meinen Kaffee wieder warm und mein
Feuerzeug und mein Zigarettenetui wieder trocken gemacht, und das
Mädchen am Nebentisch ist jung, und die braunen Velourshüte sind wieder
modern, und die alten Herren, diese verehrungswürdigen alten Herren —
ja,— die alten Herren sangen wahrhaftig an, vom Dollar zu sprechen!
Und alles ist frisch und strahlend wie am ersten Schöpfungstag, und ich
lächle und bin glücklich, und ich kann sie nur billigen, diese Sportsberichte,
diese vorzüglichen Sportsberichte, ja, und ein Hurra den Karlsbader
Sechstagesiegern in Amerika, und ich will auch ein Anhänger werden,
und das nächstemal will ich auch auf Kammersänger setzen, und er
wird mir dreihunderlfaches Geld bringen.

BRIEFE

VON WILLY SCHÄFER

Verschneites Dorf

Ich habe geweint und mich verachtet und inich verabscheut, als ich Ihren
Brief in den Händen hielt. Ich will keinen mehr! Nie mehr! Nichts mebr!

Ich lese den Brief immer wieder. Was das für Worte sind! Nie ge-
sehene Worte! Nie gehört! Schreiben Sie wieder und mehr. Ich bitte,
ich bitte Sie! *

Ja. Wir sind in Cassel auSgeftiegen. Ich hatte es ja nur gewollt, weil
ich glaubte, daß Sie dort blieben. Wie hieß die Station, wo Sie aus-
stiegen ? Wer erwartete Sie dort ? Ich sah nur alte Häuser in der Nacht,
die sich um einen mächtigen runden Turm drehten, als der Zug weiter-
sauste. Ohne Sie! Wozu nun in Cassel bleiben! — Als das Hotel-
zimmer hell wurde, war ein Mann bei mir. Er war dick und hatte einen
dichten schwarzen Bart um das ganze Gesicht, und tiefe Falten auf der
niedrigen Stirn. Er schlief laut, und ich legte mich im Mantel auf den
Divan im dunklen Salon. Ich fühlte, wie Ihre Augen mich liebkosten
die ganze Nacht.

Wir waren auf
Wilhelms-Höhe
und im Schlosse
Wilhelmstal.Ich
habe nichts gese-
hen. Am Abend
fuhren wir nach
Hause. Nun war-
te ich.

*

Ich bin über-
schüttet von dem
Glück. Ich lese
Ihr Gedicht, wo
ich geh' und steh'.

Sie fragen,
wo ich später
sein werde, im
Nachsommer, im
Herbst. Wozu
das Fragen! Ach,
liebten Sie mich,
Siewären längst
gekommen. —
Komm!

Du schreibst
Dein Gedicht
wieder „Einer

Unbekannten". Ich muß lächeln. Wie Du mir unbekannt bist! Als wir
uns sahen, da sah ich Dich nur wieder. Wir haben zwei Worte zusam-
men gesprochen, und es war Deine Stimme, längst vorher gehört und
geliebt. Ich bete Dich an, mein Un — bekannter!

*

Es ist alles anders geworden. Können wenige Stunden alles anders
machen, als es bis dahin war? Kurze Stunden, in denen sich zwei Men-
schen gegenübersitzen? Mußten wir diese Menschen sein, Du und ich?
O! diese langen, langen Stunden in der Nacht! Alles schlief um uns.
Ist die Begegnung Schicksal? Schicksal — wie dies starre dunkle Wort
milde sein kann und voll Licht. *

Es regnet und regnet, schön und tröstlich. Es schließt alles Draußen
ab. Ich bin allein mit Dir. #

Ich mache Pläne. Ich will reisen, immer denselben Weg, vielleicht
daß ich Dir begegne. Ich will zu Dir fahren und ankommen in der

Nacht. Weshalb
rufst Du mich
nicht! Weshalb
rufst Du mich
nicht...

Ich komme
nicht aus dem
Hause, und mein
Mann bleibt oft
in der Stadt.
Ichweißeökaum.
Ich wache auf,
weil ich Dein
Gedicht laut im
Schlafe sprach.

Ich warte.
Vielleicht ist das
schon das Glück.

Also dann?

Großer Gott,
dann.

*

* *

Mein Mann
fabriziert Ma-
schinen für die
Landwirtschaft:
Mähmaschinen
und Drillmaschi-
nen usw. Sie
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Hermann Franke: Verschneites Dorf
Willy Schäfer: Briefe
 
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