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laßten neue Inseln zu bauen. Große und kleine, rechteckige, dreieckige,
trapezförmige, ei- und kreisrunde Inseln, mitten hingestellt in die
tückische, unübersehbare Verkehrsflut, die da hin- und widerbrandet
zwischen dem dichtbesiedelten Festland von Zentral-München und den
Vereinigten Staatsbahnhöfen des Westens?

Ich weiß eö nicht. Ich weiß nur, daß jenes ungefähr die Gedanken
waren, die wie heitere Musik meine Sorgen unterbrachen, als ich,
reisetaschenbeladen aus der Stadt heraneilend, eben meine Rechnung
mit dem Himmel oder wenigstens mit der chirurgischen Klinik ab-
geschlossen hatte nud nun, freudig überrascht, zum ersten Male den
neuen Archipel, wie durch vulkanische Kräfte cmporgezaubert, im
Strahl der jungen Frühlingssonne vor meinen trunkenen Augen sich
breiten sah. Glück und Beifall im Herzen steuerte ich auf die nächft-
greifbare kleine runde Insel zu, der Atempause zu pflegen. Kaum
gelandet, hörte ich hinter mir die Wogen von beiden Seiten zu-
sammenrollen in Gestalt endloser Reihen Elektrischer, die den Zu-
gang zum Eiland auf lange hinaus verlegten, von der Stauung sich
lösend, die weit in der Vorstadt ein querüber gestürzter Möbeltrans-
port getürmt haben mochte. Vor mir aber toste in schmetterndem
Rhythmus die Stabeiscnlast eines Brückenwagens auf und nieder,
gefolgt von einem Mammutauto mit Brennholz und Koks, von
Ziegelfuhren und Müllkarren, von Obstkörben, Mehlsäcken und
Flaschenbier. Da plötzlich — unmittelbar hinter dem Flaschenbier —
schmiß der Verkehr etwas Peinliches an mein Gestade: Einen Mann,
den ich seit dreißig bis vierzig Jahren kenne, aber nicht grüße! Oder
wenigstens ganz selten, ganz flüchtig und so quasi aus Versehen. Er
mich auch. Die meisten Leute haben einige solche lose Verbindungen.
Man ist einmal ein paar Semester miteinander in die ABC-Schule

gegangen; man hatte vielleicht einmal schief gegenüber gewohnt,
einen gemeinsamen fernen Bekannten begraben, die Schwester des
andern geliebt oder einmal in einem Cafehaus die Hüte gegen-
seitig verwechselt. Kurz, man ist sich vor Dezennien einmal irgendwie
nahegetreten, hat sich dann während der Wanderjahre aus den Augen
verloren, schließlich aber im Gewimmel der Großstadt wieder ent-
deckt ohne von der Entdeckung sichtbar Gebrauch zu machen. Sicht-
bar höchstens insofern, als man fünf Schritte vor der Begegnung
zufällig auf der Kuppel des südlichen Frauenturms einen weißen
Spatzen bemerkt zu haben glaubt oder sich vom Wohlbefinden der
Glockenspielritter oben am Rathaus überzeugen muß oder von der
Güte der neuesten schwindelfreien Schuhsohleneinlagen im nächsten
Schaufenster. Nicht, weil man den Bekannten ungenügend hoch-
schätzt, sondern weil man den Namen vergessen hat und sich in die
innerste Seele hinein schämen müßte so einen beleidigenden Mangel
an Gedächtniskraft im Gespräch zu verraten. Dazu den nagenden
Zweifel, ob man auf Sie oder Du steht! — Steigen wir deshalb
einmal in den gleichen Trambahnwagen, so ist die Zielsicherheit
bewundernswert, mit welcher jeder nach der entgegengesetzten Platt-
form strebt. Selbst im unbeschreiblichsten Menschengewühl, bei einer
patriotischen Standmusik an der Feldherrnhalle, beim Schottenhamel

auf der Festwiese, an der Nationaltheaterkaffe-überall sind wir

schon gut umeinander herumgekommen. Aber auf einer einsamen
Insel...!!

„Ja, sowas!" lächelte mein Freund verbindlich, „sieht man sich
auch wieder einmal!"

Meinen Namen wußte der Kerl also offenbar. Sonst aber auch
nicht viel.

Blick über die Ludwigö-Brücke zum Bau des Deutschen Museums

Heinrich Kley

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Heinrich Kley: Blick über die Ludwigs-Brücke zum Bau des Deutschen Museums
 
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