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Kandinsky, Wassily
Über das Geistige in der Kunst: insbesondere in der Malerei ; mit acht Tafeln und zehn Originalholzschnitten — München, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.27758#0067
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V. WIRKUNG DER FARBE

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Und nur bei einer höheren Entwicklung des Menschen erweitert
sich immer der Kreis derjenigen Eigenschaften, welche verschiedene
Gegenstände und Wesen in sich einschließen. Bei hoher Entwicklung
bekommen diese Gegenstände und Wesen inneren Wert und schließlich
inneren Klang. Ebenso ist es mit der Farbe, die bei niedrigem
Stand der seelischen Empfindsamkeit nur eine oberflächliche Wirkung
verursachen kann, eine Wirkung, die bald nach beendigtem Reiz ver-
schwindet. Aber auch in diesem Zustand ist diese einfachste Wirkung
verschiedener Art. Das Auge wird mehr und stärker von den helleren
Farben angezogen und noch mehr und noch stärker von den helleren,
wärmeren: Zinnoberrot zieht an und reizt, wie die Flamme, welche
vom Menschen immer begierig angesehen wird. Das grelle Zitronengelb
tut dem Auge nach längerer Zeit weh, wie dem Ohr eine hochklingende
Trompete. Das Auge wird unruhig, hält den Anblick nicht lange aus
und sucht Vertiefung und Ruhe in Blau oder Grün.
Bei höherer Entwicklung aber entspringt dieser elementaren Wir-
kung eine tiefergehende, die eine Gemütserschütterung verursacht. In
diesem Falle ist
2. das zweite Hauptresultat des Beobachtens der Farbe vorhanden,
d. h. die psychische Wirkung derselben. Hier kommt die psychische
Kraft der Farbe zutage, welche eine seelische Vibration hervorruft.
Und die erste, elementare 'physische Kraft wird nun zur Bahn, auf
welcher die Farbe die Seele erreicht.
Ob diese zweite Wirkung tatsächlich eine direkte ist, wie man aus
den letzten Zeilen annehmen kann, oder ob sie durch Assoziation
erreicht wird, bleibt vielleicht eine Frage. Da die Seele im allgemeinen
 
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