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Kemp, Wolfgang; Heck, Kilian [Hrsg.]
Kemp-Reader: ausgewählte Schriften — München, Berlin: Dt. Kunstverl., 2006

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https://doi.org/10.11588/diglit.55647#0249
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Ellipsen, Analepsen, Gleichzeitigkeiten
Schwierige Aufgaben für die Bilderzählung

Zur Grundausrüstung der Erzählforschung gehört die Unterscheidung zwischen »erzähl-
ter Zeit« und »Erzählzeit«, zwischen »plot time« und »story time«. Diese Opposition be-
sagt nichts anderes, als daß Erzählen Zeit braucht, eine andere Zeit braucht, als die vor-
ausgesetzte, rekonstruierbare Realzeit einer Geschichte. »Une des fonctions du recit est de
monnayer un temps dans un autre temps«, sagt Christian Metz.1 Der Erzähler kann
Elemente auslassen, er kann das Geschehen raffen (»Vier Jahre später ...«) und er kann es
dehnen, indem er z. B. die Geschichte eines Tages auf 1000 Seiten berichtet, aber seine
eigentliche Kunst beweist er nicht in der Verfügung über extreme Möglichkeiten, sondern
über den Rhythmus, der sich zwischen Entfaltung, Verknappung und Anspannung ergibt:
»Das Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit muß im Verlauf der Erzählung ständig
wechseln. (...) Eben dieses Verweilen, Raffen und Weglassen des Erzählers verleiht nicht
nur bestimmten Stadien des Geschehens einen besonderen Akzent, sondern läßt den ge-
samten erzählten Stoff als etwas Neugestaltetes aus der Monotonie der bloßen Sukzession
heraustreten. Unter der Hand des Erzählers strukturiert sich also die Sukzession der Be-
gebenheiten, teilt sich die Abfolge des Ganzen in sehr unterschiedliche Erzählglieder auf
— Glieder, die Kraft ihres energischen und gerichteten Aneinanderwachsens nicht Stücke,
sondern Phasen in der Bildung des Ganzen darstellen.«2 3
Für den Bereich der bildenden Kunst gelten diese Bemerkungen nur sehr eingeschränkt.
Bilderzählungen arbeiten umständlicher als literarische, sie müssen jede Szene, jeden Vor-
gang gründlicher ausstatten, was dazu führt, daß ihre Länge begrenzt ist: in mittelalter-
lichen Glasfenstern finden wir kontinuierliche Langzyklen mit maximal 30 Feldern’; in
späterer Zeit werden es eher weniger Teilszenen: Hogarth etwa kommt in seinen Zyklen
meist mit acht Blättern aus. Das aber hat zur Folge, daß eine kunstvolle Rhythmisierung
des Verhältnisses von erzählter und Erzählzeit, eine Abstimmung verschiedener Längen von
Bilderzählungen nicht zu erwarten ist (Sonderleistungen ausgenommen), daß es hier viel-
mehr auf die positive wie auf die negative Auswahl dessen ankommt, was dargestellt und
was ausgelassen wird. Solange Bilderzählungen in einem literarischen Vorwissen abgestützt
sind, ist das Intervall nur eine negative Größe und bereitet keine wirklichen Probleme. Die
christliche Kunst kennt unzählige Beispiele dafür, daß Künstler ein- und denselben narra-
tiven Sachverhalt auf unterschiedlichste Länge bringen, ja ganze Teilabschnitte und Höhe-
1 Christian Metz: Film Language: A Semiotic of the Cinema. New York 1974, S. 18.
2 Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1972, S. 24.
3 Zum Erzählen in Langzyklen vgl. Verf: Sermo corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster.
München 1987.
 
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