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Kerschensteiner, Georg
Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung: neue Ergebnisse auf Grund neuer Untersuchungen — München, 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.27816#0475
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§9- Das Stoffgebiet des Zeichnens an den allgemeinbildenden Schulen, 455

Schulweisheit bildet, als dass es einem methodischen Bedürfnisse
entspräche.

Noch weniger ist die geometrische Konstruktionsform für die
freien, ornamentalen Entwürfe des Kindes ein Bedürfnis. Die Versuche
in § 7 haben mit voller Deutlichkeit gezeigt, dass das Kind bei den
besten Entwürfen nicht im geringsten irgend welcher konstruktiver
geometrischer Hillen bedarf. Wenn nur die Aufgabe sinngemäss
gestellt ist und wenn sonst die nötigen Motive im Formengedächtnis
des Kindes vorhanden sind, Einteilung und Rhythmus findet es dann
von selbst, und findet es um so besser, je mehr ihm Gelegenheit ge-
boten ist, gut ornamentierte Gegenstände zu betrachten. Die letzten
Tafeln beweisen hier mehr als alle weiteren Bemerkungen. Ja, sie
beweisen unwiderleglich, dass alle Ornamentierungskunst der Kinder
nicht an verstandesmässige Konstruktionen anknüpft, sondern, ohne
dass sie dabei kopieren, an die Beispiele, welche ihnen Gegenwart
und Vergangenheit zur Verfügung stellen, genau ebenso wie sie
ihren sprachlichen Ausdruck nicht aus der Grammatik herausgewonnen
haben, sondern aus der Sprache ihrer Umgebung.

Man ist auch auf die sonderbare Idee verfallen, im Anschluss
an die sogenannten Fröbelschen Gaben des Kindergartens, also an
Stäbchenlegen, Flechten, Zusammensetzspiele durch ein ad hoc er-
fundenes ABC von Formen die Kinder systematisch, sei es in das
Freihandzeichnen, sei es in das Ornamentalzeichnen, einzuführen.
Die Gründe, die dagegen sprechen, liegen auf der Hand : Stäbchen-
legen, Bauen, Zusammensetzspiele fördern weder den Handgehorsam
für die notwendigen zeichnerischen Bewegungen, noch lassen sie irgend
einen korrekten Ausdruck für die jeweiligen Vorstellungen zu, binden
vielmehr die Vorstellungen an ein starres System abstrakter Formen.
Die Feinheit und Charakteristik der empfindungsvollen Finie auch
im allereinfachsten Falle lernt sich eben nur, wenn man Finien
macht. Wenn schon grosse Bildhauer oft recht mässige Zeichner
sind, nicht weil es ihnen an der Vorstellung mangelt, sondern
an der Übung des graphischen Ausdrucksvermögens, was soll
man erst erwarten von den Zusammensetzspielen für den graphischen
Ausdruck? Genau ebenso könnte es einem einfallen, das Kind
schreiben zu lehren durch Anleitung zum Zusammensetzen von
Drahtstücken, ein Weg, auf den die Methodensucht selbst unserer Zeit
noch nicht geraten ist. Reiten lernt man eben nur auf einem leben-
digen Gaul und nicht auf einem Holzbock oder Steckenpferd. Doch
hat man immer den Einwand bereit, dass das Kind durch solche
Übungen „auf schöne Formen geführt werde“. Allein schöne

Das Beschäfti-
gungsspiel als
Stoffquelle des
Zeichnens.
 
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