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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 7.1891-1892

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Moreau-Vauthier, Charles: Die Bacchantin
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https://doi.org/10.11588/diglit.10735#0322
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Die Vaccyuntiu

von LH. Moreau-Vauthier

Autorisierte Übersetzung aus dem Französischen, von Laura Feil

— Meine Bacchantin! . . .

Diese beiden Worte mnßte man den Bildhauer Ros-
nard aussprechen hören. Der Künstler betonte das
doppelte C und verharrte auf der vorletzten Silbe mit
einem Nachdruck voller Zärtlichkeit, die an den Ton ge-
wisser junger Leute erinnert, wenn sie „meine Verlobte"
sagen. Die Bacchantin aber war eine einfache Skizze
aus Terracotta und so groß wie eine Hand. An einem
jener glücklichen Tage, an welchen die Götter einem die
Finger zu führen scheinen, hatte Rosnard dieses Frauen-
figürchen gebildet, es vorsichtig in eine Ecke gestellt und
erklärt:

— Dies wird mein erstes Werk für den Salon.

Und seit zwei Jahren schwärmte er für nichts als
für seine Bacchantin. Als mittelloser Liebhaber begann
er mit auvergnatischer Gier die zur Ausführung seines
Werkes nötige Geldsumme zusammenzuscharren. In der
ersten Zeit litt er sehr unter dieser Verzögerung; eines
Abends, als er seine Skizze betrachtete, mußte er sogar
aus unbefriedigtem Eifer weinen . . . Als sich jedoch
die Wartezeit immer mehr in die Länge zog, und die
Bacchantin dabei unempfindlich und treu ausharrte, be-
ruhigte er sich; er dachte vielleicht an jene britannischen
Geduldsverlobungen, die Jahre dauern. Uebrigens war
die Haltung der Statue, die zwar eigenartige, obwohl
natürliche Hüftenbewegung einer trunkenen Frau, ver-
geblich von mehreren Modellen versucht worden; keines
hatte den Künstler befriedigt. Und stolz über eine
Schwierigkeit, die sein Werk auf eine höhere Stufe stellte,
schöpfte er daraus aufs neue Geduld. Zuletzt lebte er
nur noch in einem unfruchtbaren Traume still und in
sich gekehrt dahin, und stattete die Bacchantin darin mit
all' den Reizen aus, welche Don Quixote seiner ein-
gebildeten Dulcinea beimaß.

Die beunruhigten Kollegen suchten ihn aus solcher
Schlaffheit herauszureißen, aber ihren Bemerkungen er-
wiederte er:

— Ich will keine Schulden machen! Außerdem
erfordert meine Bacchantin ein Modell, das sehr schwer
zu finden ist. —

— Du suchst es nur nicht, sagte der Maler Quarelle.
Rosnard hatte dafür nur eine Geberde verächtlicher
Ueberlegenheit:

— Bah! Ich kenne sie eure Modelle! Italiene-
rinnen, schwach zum Umblasen, oder Französinnen, mager
wie ein Skelett. Und alle verblüht, verwelkt. . . Nein,
nein! Das ist alles nichts für meine Bacchantin!

— Gieb acht! rief Quarelle, du wirst noch der
Bartolo der Bildhauerkunst werden: zu guter letzt wird
man sie dir fortschnappen, deine Bacchantin!

Voll Geringschätzung entgegnete Rosnard: — Ich
bin unbesorgt! ich habe Zeit, meine Ersparnisse zu ver-

größern. Keines eurer Modelle kann die Bewegung
wiedergeben.

Man lachte und die „Bewegung der Bacchantin"
wurde in jenem engen Künstlerkreise ein sprichwörtlicher
Ausdruck, der das „Unmögliche" bezeichnete.

* -ft

Eines Abends trug Rosnard dem Quarelle eine
kleine Gipsfigur zurück, die dieser ihm geliehen hatte.

— Herr Quarelle ist ausgegangen, meldete der
Portier, — hier ist der Schlüssel.

Im fünften Stockwerke stellte Rosnard die Statuette
auf die Schwelle und staubte sich sorgfältig einige Gips-
spuren von der Schulter; denn er hatte an diesem Tage
seinen besten Anzug angelegt, da das Atelier seines Kolle-
gen gewöhnlich von Kunstfreunden stark besucht war.
Darauf ließ er den Schlüssel in das Schloß gleiten.
Aber in dem Augenblicke, als er eintreten wollte, fühlte
er zwei derbe Fäuste mit spitzen Fingernägeln ans seinem
Gesichte, die ihn am Barte zogen und ihm die Haut auf-
kratzten. Er stieß einen Schrei ans und machte instinkt-
mäßig die Thür wieder zu.

Eines Augenblickes bedurfte er, um sich von seinem
Schreck zu erholen. Er hatte nichts gesehen, nichts ge-
hört. Was bedeutete dieser plötzliche Angriff? Das war
kein Scherz! Die Kratzwunden, die er mit dem Taschen-
tuche verhielt, brannten und schmerzten .. . Das Einzige,
was er thun konnte, war, dem Portier Mitteilung davon
zu machen. Er stieg herunter, auf einmal rief eine
Frauenstimme:

— Offnen Sie, so öffnen sie doch!

Er blieb stehen, dann fragte er:

— Was machen Sie da drinnen; wer sind Sie?

— Flo, antwortete man.

Dieser Ausruf erschien ihm wie eine Beleidigung,
und er stieg wieder einige Stufen hinunter, doch die
Stimme wurde dringender und weinerlich:

— Öffnen Sie, ich beschwöre Sie!

— Wenn Sie wollen, daß ich öffnen soll, wozu
haben Sie mich da geschlagen?

— Ich hielt Sie für Quarelle, der mich eingeschlossen
hat. Öffnen Sie, Sie erweisen mir einen Liebesdienst.

Infolge der unerwarteten Nägelattaque traute er
auch den sanften Worten nicht recht und forschte weiter:

— Warum hat man Sie eingeschlossen?

—- Ich werde es Ihnen sagen; öffnen Sie zuvor . . .
— O! Ich Unglückliche! mich so im Stiche zu lassen!.. .

Dieser tragische Ton rang Rosnard ein Lächeln ab.
Er wurde nachsichtig und stieg hinauf, um die Gefangene
zu befreien. Hinter der Thür gewahrte er ein großes,
unbekleidetes Mädchen, das ihm eiligst entgegcnkam.

— Danke! Sie sind ein guter Mensch ... Öffnen
Sie auch, bitte, das Atelier, der Schlüssel ist derselbe...
 
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