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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 7.1891-1892

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Moreau-Vauthier, Charles: Die Bacchantin
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https://doi.org/10.11588/diglit.10735#0323

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Die Bacchantin

2SH

Sie war in einem engen, leeren, finsteren Vorzimmer
eingesperrt.

— Sie haben nach der Sitzung meine Kleider ver-
steckt, erklärte sie, und mich hierhinein gesperrt, weil es
da nichts zu zerbrechen gibt. . .

Hierauf enthüllte sie eine düstere Geschichte. Sie
war Modell. Da sie sich geweigert hatte, einem so an-
spruchsvollen Künstler, der noch dazu grob und ein
schlechter Zahler war, weiterhin zu posieren, hatten sie
Quarelle und dessen Freunde aus Rache in diesen Winkel-
gang eingekerkert, wo sie seit vier Stunden vor Kälte
zitterte.

Das Atelier war dunkel; an den Wänden hingen
Bilder wirr durcheinander. Die Rahmen schienen wie in
Nebel getaucht; der rotglühende Ofen krachte, und das
hinter der Glaswand gestikulierende Mädchen leuchtete,
wie wenn die Poren ihrer Haut das flüchtende Licht aus-
gesogen hätten.

— Ich gehe mit Ihnen! rief sie; doch sich besinnend:

— Bin ich albern! So kann ich ja nicht aus-
gehen. Was werden wir thun? Ich möchte gerne speisen
gehen, allein. . .

.Sie zündeten eine Lampe an, durchstöberten das
Atelier und Quarelles Zimmer, ohne die versteckten Kleider
zu finden. Rosnard war schon ermüdet, als das Mädchen
einen Freudenschrei ausstieß. Ein Paar Beinkleider lagen
auf dem Bette.

— Eine Idee! Ich werde mich als Mann ver-
kleiden.

— Schön! höhnte der Künstler, mit einem Paar
Beinkleidern?

Sie sah den Bildhauer an.

— Nun so werden Sie mir Ihren Überrock und
Ihre Weste geben. Das Wetter ist heute sehr mild, Ihr
Überzieher wird Ihnen genügen ... Ich habe im Atelier
einen Filzhut und ein Paar alte Schuhe gesehen, das
wird meine Toilette vervollständigen.

Er lehnte sich dagegen auf; seine besten Garderobe-
stücke einer solch' Ünsinnigen zu überlassen . ..

— Aber nein! ... O nein! . . .

Sie war bereits in die Beinkleider geschlüpft, und
schwankend, die Beine verschränkt, drehte sie sich, um ein-
dringlicher zu bilten. Rosnard, plötzlich ganz verklärt,
streckte den Arm aus und rief ihr schnell und lebhaft zu:

— Rühren Sie sich nicht!

Das war die Bewegung der Bacchantin! Das
jene gelenkige, sich windende, und dabei geschmeidige
Haltung des Leibes, voll edler Grazie; ganz so, wie er
es geträumt. . . Das junge Mädchen lächelte und rührte
sich nicht mehr. Nur zu gut kannte es diesen Blick, diese
Liebkosung des Auges, das die Körperflächen nachzeichnete,
und sie schon im Geiste mit Daumendrücken nachformte.

— Wohlan, sagte sie, überlassen Sie mir Ihren
Überrock und ich werde Ihnen, so oft Sie wollen, sitzen.

Aber er blieb taub, sie begann von neuem, immer
noch unbeweglich:

— Ihren Rock, oder ich rühre mich!

Er antwortete nicht. Sie richtete sich schnell Wieder-
aus und vervollständigte ihre Toilette.

Rosnard stieß einen leisen Fluch aus.

— Sehen Sie! Ich habe es Ihnen vorher gesagt.

Der Künstler, nachgiebig geworden, behielt seinen
Überzieher und übergab ihr Rock und Weste; dann maß
er mit großen Schritten ganz aufgeregt das Zimmer.

Er hatte nun ein Modell und ein herrliches Modell!
Aber unglücklicherweise konnte er seit zwei Jahren nur
200 Frcs. zurücklegen. Damit bestritt er höchstens die
Kosten für den Abguß und den Transport in den Salon.
Was thun?

Während er sich in seine Betrachtungen vertiefte,
versuchte die junge Schöne sich anzukleidcn. Sie zwang
ihre Hüften in die Beinkleider und ihren Busen in die
Weste. Der Filzhut schwebte ihr auf dem Kopfe und
ihre Füßchen verloren sich in den Schuhen. Nichtsdesto-
weniger setzte sie sich über all' diese Schwierigkeiten hin-
weg, konnte sich sogar vor dem Spiegel bewundern, indem
sie spöttelnd bemerkte:

— Hinten ist mir zwar alles zu weit, und bei den
Knieen bin ich ganz eingezwängt . . . Das hindert jedoch
durchaus nicht, daß ich sehr vielen Frauen gefallen werde.

Sie drehte sich im Kreise herum und wäre beinahe
gefallen.

Rosnard, durch seine Berechnungen nun ruhiger
geworden, machte sich schon Vorwürfe. Es hatte sich
verlohnt, gleich den Kopf zu verlieren und sich dummer
Weise seiner Kleider zu berauben. . . Zugestanden, sie
hatte die Pose der Bacchantin zu Wege gebracht, aber er-
kannte jene glücklichen Zufälle: so würde sie dieselbe nie-
mals wieder herausbringen; und wenn er es von ihr
verlangte, würde ihre Bewegung linkisch, steif und häß-
lich werden, da sie dann aufhörte, unwillkürlich zu sein . . .
Sie näherte sich ihm, zum Ausgehen bereit:

— Sie begleiten mich, nicht wahr?

— Natürlich, antwortete er trockenen Tones, ich
habe nicht die Absicht, Ihnen meinen Überrock gänzlich
zu überlassen.

-i-

Auf der Straße hüpfte und tänzelte sie voller Freude
und rief fortwährend:

— O, wird sich dieser Quarelle ärgern!

Leute, die sich über ihre Carnevalsmanieren wunderten,
sahen ihr nach. Dadurch in Verlegenheit gebracht, be-
schleunigte Rosnard seine Schritte. An einer Straßen-
ecke stieß sie eine Glasthüre auf und stürmte die Treppe
hinan; Rosnard, entschlossen, sie nicht eher zu verlassen,
als bis er seinen Überrock wieder hatte, folgte ihr. Im
ersten Stockwerke drang sie in ein Zimmer ein, dessen
ganzes Mobiliar aus einem Tische, einem Spiegel und
einem roten Sofa bestand. Er erstaunte nicht wenig, als
ein Mann, der ihm auf den Fersen folgte, sich in den
Speisesaal stürzte, den Tisch durch eineu Schlag mit der
Serviette abstaubte, das Gas aufdrehte und vor ihm
aufgepflanzt, eine ganze Litanei heruntcrleierte. Er erkannte
in ihm einen Restaurationskellner. Ein zweiter, der nach
dem ersten eingetreten war, legte bereits zwei Gedecke
auf. Es blieb nichts anderes übrig, als sich darein zu
fügen. Rosnard unterbrach den Kellner:

— Fragen Sie Madame.

Diese bestellte in wenig Worten das Menu. Als sie
allein waren, wollte sie sich entschuldigen und gab vor,
daß sie seit frühmorgens nichts gegessen habe.

— Wer hinderte Sie aber daran, vorher wenigstens
diese lächerliche Verkleidung abzulcgen?

— Mich in diesem Aufzuge bei uns zu Hause
zeigen! rief sie, o was würde Mama dazu sagen!

Und die Vertraulichkeiten begannen. Sie hieß Florence;
in den Ateliers nannte man sie Flo; die große Flo.
Ihre Mutter schlug sie, ihr Vater, ein Trunkenbold,
 
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