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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 7.1891-1892

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Moreau-Vauthier, Charles: Die Bacchantin
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https://doi.org/10.11588/diglit.10735#0324

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von LH. Moreau-vauthier

2SS

stahl ihr Geld. Sie war dafür geschaffen, als ehrbare
Frau zu leben, allein das schlechte Beispiel und dann ...
dann .. . Sie fing an, Krokodilsthräncn zu weinen,
ohne dabei im Essen nachzulassen. Sie rang nach Atem.
Er öffnete das Fenster, sie zog den Überrock aus, knöpfte
die Weste auf und verblieb so. Hals und Arme entblößt...
Ein Bettler kratzte die Violine auf der Straße. Jetzt
fühlte sie sich etwas leichter. Für Musik schwärmend
hatte sie immer davon geträumt, Sängerin zu werden.
Sie fing zu fingen an. Das war ein Durcheinander
von heiseren und schrillen Tönen. Rosnard wollte er-
schreckt das Fenster schließen. Sie gab es nicht zu.
Aber als sie mitten im Wort Atem holte, ertönte von
der Straße herauf ein Pfeifen. Sie sprang aus; zum
Fenster hinausgebeugt, mit fliegenden Haaren, erhob sie die
Faust und schleuderte einen wütenden Wortschwall hinunter.
Erleichtert setzte sie sich wieder hin, stürzte ein großes
Glas Wein herunter und machte den Vorschlag fortzu-
gehen. Sie wäre in einem Wirtshause im «Juartier
latin angestellt und möchte nicht gern ihren Abend ver-
lieren. Es wäre so amüsant, als Manu zu bedienen.

Rosnard war durch diese widersprechenden Geständ-
nisse ganz verwirrt.

— Nun, und Ihre Mutter, von der Sie sprachen?

Sie machte große Augen.

— Wirklich? Sie haben diese Lüge geglaubt?

Mit einer Art bemutternder Würde erklärte sie:

— Ja, mein Bester, wenn man immer nur die
Wahrheit sagte, so würde man, wie Sie wohl wissen,
leicht überall anstoßen und das wäre nicht mehr lustig.

Er verlor beinahe die Geduld.

— Und meine Sachen, wann werden Sie mir sie
wicdergcben?

Den Kopf auf beide Ellbogen gestützt, sagte sie
ohne Umschweife:

So wissen Sie denn . . . Der Schlüssel von meinem
Zimmer und das Portemonnaie sind in meinem Rock
geblieben. Begreifen Sie demnach, daß ich mich an Ihre
Fersen heften mußte, wenn ich speisen wollte? Jetzt will
ich Ihnen nur noch danken und mich fortmachen, denn
es ist schon spät.

Sie entwischte, ohne auf ihn zu warten. Es blieb
ihm nichts anderes übrig, als die Rechnung schnell zu
begleichen und ihr eiligst nachzugehcn. Auf dem Boulevard
St. Michel holte er die Flüchtige ein. Er hielt sie an,
wollte ihr einen Verweis geben und einen letzten Ver-
such machen, um wieder in den Besitz seines Rockes zu
gelangen, den er in arger Gefahr wußte. Aber das
junge Ding lachte ihm ins Gesicht. Er wurde heftig;
die Passanten liefen zusammen . . . Plötzlich wand sich
Flo mitten durch die Menge und lief, bis sie in einem
Cafe verschwand, von welchem ein Heller Schein auf das
Trottoir fiel. Er näherte sich der Eingangsseite; durch
die Vorhänge hindurch sah er das Mädchen spöttelnd
und mit sieghafter Miene vor einem Gasttische stehen.
Frauenspersonen umringten sie und lachten ihr Beifall
zu. . . Wenn er jetzt einträte, würde er sich dem all-
gemeinen Spotte aussetzen und hätte wohl noch die Zeche
zu zahlen. Der Abend war ihm bereits teuer genug
zu stehen gekommen. . . Sehr verstimmt entfernte er
sich . . .

Rosnard bewohnte in Montrouge ein einfenstriges,
enges und eiskaltes Loch, das ihm als Wohnung und
Atelier diente. In einer Ecke stand auf einem kleinen
Schemel die Skizze der Bacchantin.

Als er am anderen Morgen Quarelle besuchen wollte
und sich gerade zum Ausgehen anschickte, klopfte es und ein
Mädchen trat keck und munter herein.

— Wie geht's?

Er erkannte Flo. Sie warf ein Paket auf das

Bett.

— Hier sind Ihre Sachen! Ouarelle hat mir Ihre
Adresse gegeben.

Überrock und Weste waren in tadellosem Zustande.

Er dankte ihr.

— Durchaus keine Ursache! antwortete Flo, die,
von der Armseligkeit des Logis ergriffen, verlegen drein-
schaute, einigermaßen von Gewissensbissen gepeinigt.
H. propos! sagte sie, ich versprach Ihnen ja zu sitzen.

— Danke! antwortete der Bildhauer, ich bedarf
Ihrer nicht.

Sie sah ihn groß an.

— Sie sind wohl böse auf mich? fragte sie.

— Nicht allzusehr! versicherte er.

— Nun, so lassen Sie mich Modell stehen. . .
Gestern Abend habe ich Quarelle und seine Bande im
Wirtshaus getroffen... Ich habe geschworen, ihnen
nicht mehr zu sitzen und mich gerühmt, jetzt Ihr Modell
zu sein. Sie glaubten es mir nicht und stichelten mich
derart, daß inir nun daran liegt, sie zu ärgern.

Er schüttelte den Kopf; sie beharrte eigensinnig auf
ihrer Bitte.

Aber ich will es! Nur einen Augenblick Geduld,
Sie werden mich ein wenig besser ansehen, als gestern
und, ohne mir zu schmeicheln, leicht bei mir eine passend
schöne Bewegung herausfinden.

Sie nestelte ihre Taille auf; Rosnard wollte sie
daran hindern.

— Es ist unnütz, meine Liebe, ich habe keinen
Heller, um Ihnen die Sitzungen zu zahlen.

Das hatte sie wohl geahnt.

— Aber Dummheit! rief sie, so werden Sie mir
später zahlen. Ich bin immer sehr beschäftigt; ich habe
sogar einige Groschen auf der Sparkasse liegen. Ich kann
also warten.

Während sie so sprach, zog sie sich weiter aus, und
ohne auf die Einsprache des Bildhauers zu hören, bestieg
sie den Modelltisch.

— Diese Bewegung, zum Beispiel! sagte sie, auf
die Skizze der Bacchantin zeigend.

Langsam drehte und wendete sie sich und brachte
durch das Herumtappen ihrer Arme in der Luft und
ihrer Füße auf dem Boden ihre Hüften in eine eigen-
artige Lage; endlich blieb sie regungslos.

Tiefe Stille herrschte im Atelier. Ohne sich zu
rühren, fragte sie halblaut:

— Nun, was sagen Sie, werter Meister?

— Was ich sage? wiederholte der Bildhauer mit
vor Begeisterung vibrierender Stimme. Ich sage:

— Entweder wird es ein Meisterwerk, oder es ist
aus mit meiner Kunst! . . .

Die „Bacchantin" wurde vollendet. Man kann sie
im „Salon" bewundern. Ist sie auch kein Meisterwerk,
so doch eine reizende Arbeit voll Verve und Talent.
 
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