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Exkurs: Zur Schauspielkunst
schiedliche, einander ausschließende Wege. Die Dumesnil überließ sich völlig ihrer
Inspiration. Sie begab sich in eine Rolle und durchlebte diese jedesmal neu, wenn sie
auf der Bühne stand. Ein berechnendes Kalkül (etwa die Wirkung ihres Spieles
betreffend) und eine Kontrolle über ihre Bewegungen und Verhaltensweisen waren
dabei weitgehend ausgeschaltet. Damit war die Möglichkeit von Regelverstößen
nicht ausgeschlossen. Sie überzeugte durch ihre offensichtliche innere Beteiligung
am Geschehen, die bis zur Aufgabe ihrer eigenen Person ging. Für die Zeit der Auf-
führung wurde sie eins mit der Rolle. Der Zuschauer sah sich so in die Illusion ver-
setzt, nicht ein auf der Bühne präsentiertes Spiel zu sehen, sondern eine sich wirklich
ereignende Geschichte. Die Aufgabe der Distanz des Schauspielers zu seiner Rolle
bedingt beim Betrachter ebenfalls eine Verringerung der Distanz zum Geschehen auf
der Bühne und eine größere innere Beteiligung. Die dargestellte Wirklichkeit wird
tendenziell als reale Wirklichkeit akzeptiert.
Einen gänzlich anderen Weg beschritt die Clairon, die bald den Wettstreit um die
Gunst des Publikums für sich entscheiden konnte. Sie verlor nie die Kontrolle über
ihre Bewegungen und Ausdrucksformen. Ihr Spiel war bis ins letzte Detail geplant
und in seiner Wirkung vorausberechnet, kein Gefühlsausbruch war dem Zufall über-
lassen oder auch nur beeinflußt durch ein emotionales Engagement. Die Distanz
zwischen der Rolle und ihrer Person blieb immer gewahrt, was ihr eine permanente
Selbstüberwachung erlaubte - eine Möglichkeit, die sich der Dumesnil verschloß.
Diderot vermerkte zu ihrer Arbeitsweise:
»Sans doute elle s'est fait un modèle auquel elle a d'abord cherché à se conformer; sans
doute elle a conçu ce modèle le plus haut, le plus grand, le plus parfait qu'il lui a été pos-
sible; mais ce modèle qu'elle a emprunté de l'histoire, ou que son imagination a créé
comme un grand fantôme, ce n'est pas elle; si ce modèle n'était que de sa hauteur, que
son action serait faible et petite! Quand, à force de travail, elle a approché de cette idée
le plus près qu'elle a pu, tout est fini; se tenir ferme là, c'est une pure affaire d'exercice et
de mémoire.«
(Zweifellos hat sie sich ein Vorbild gewählt, dem sie sich erst anzugleichen versuchte,
zweifellos hat sie siclr dieses Vorbild so hoch, so groß, so vollkommen vorgestellt, wie
ihr das überhaupt möglich war; aber dieses Vorbild, das sie der Geschichte entliehen
oder das ihre Einbildungskraft als ein großartiges Phantom erschaffen hat, ist nicht sie
selbst; wenn dieses Vorbild nur ihre eigene Größe hätte, wie schwach und klein wäre
dann ihre Darstellung! Wenn sie sich durclr unablässige Arbeit dieser Idee so weit wie
möglich genähert hat, ist alles fertig; es festzuhalten ist dann nur noch eine Frage der
Übung und des Gedächtnisses.)205
~°5 Denis Diderot, Paradoxe sur le comédien, in: ders., Œuvres complètes, hrsg. v. Jules Assézat und
Maurice Tourneux, 20 Bde., Paris 1875-1877, Bd. 8, S. 366 (Übers, v. Friedrich Bassenge und
Theodor Lücke, zit. n. Denis Diderot, Ästhetische Schriften, 2 Bde., Berlin/Weimar 1967, Bd. 2,
S. 485 f. Kleinere Korrekturen an der Übersetzung der beiden Autoren werden im folgenden nicht
eigens vermerkt.)
Exkurs: Zur Schauspielkunst
schiedliche, einander ausschließende Wege. Die Dumesnil überließ sich völlig ihrer
Inspiration. Sie begab sich in eine Rolle und durchlebte diese jedesmal neu, wenn sie
auf der Bühne stand. Ein berechnendes Kalkül (etwa die Wirkung ihres Spieles
betreffend) und eine Kontrolle über ihre Bewegungen und Verhaltensweisen waren
dabei weitgehend ausgeschaltet. Damit war die Möglichkeit von Regelverstößen
nicht ausgeschlossen. Sie überzeugte durch ihre offensichtliche innere Beteiligung
am Geschehen, die bis zur Aufgabe ihrer eigenen Person ging. Für die Zeit der Auf-
führung wurde sie eins mit der Rolle. Der Zuschauer sah sich so in die Illusion ver-
setzt, nicht ein auf der Bühne präsentiertes Spiel zu sehen, sondern eine sich wirklich
ereignende Geschichte. Die Aufgabe der Distanz des Schauspielers zu seiner Rolle
bedingt beim Betrachter ebenfalls eine Verringerung der Distanz zum Geschehen auf
der Bühne und eine größere innere Beteiligung. Die dargestellte Wirklichkeit wird
tendenziell als reale Wirklichkeit akzeptiert.
Einen gänzlich anderen Weg beschritt die Clairon, die bald den Wettstreit um die
Gunst des Publikums für sich entscheiden konnte. Sie verlor nie die Kontrolle über
ihre Bewegungen und Ausdrucksformen. Ihr Spiel war bis ins letzte Detail geplant
und in seiner Wirkung vorausberechnet, kein Gefühlsausbruch war dem Zufall über-
lassen oder auch nur beeinflußt durch ein emotionales Engagement. Die Distanz
zwischen der Rolle und ihrer Person blieb immer gewahrt, was ihr eine permanente
Selbstüberwachung erlaubte - eine Möglichkeit, die sich der Dumesnil verschloß.
Diderot vermerkte zu ihrer Arbeitsweise:
»Sans doute elle s'est fait un modèle auquel elle a d'abord cherché à se conformer; sans
doute elle a conçu ce modèle le plus haut, le plus grand, le plus parfait qu'il lui a été pos-
sible; mais ce modèle qu'elle a emprunté de l'histoire, ou que son imagination a créé
comme un grand fantôme, ce n'est pas elle; si ce modèle n'était que de sa hauteur, que
son action serait faible et petite! Quand, à force de travail, elle a approché de cette idée
le plus près qu'elle a pu, tout est fini; se tenir ferme là, c'est une pure affaire d'exercice et
de mémoire.«
(Zweifellos hat sie sich ein Vorbild gewählt, dem sie sich erst anzugleichen versuchte,
zweifellos hat sie siclr dieses Vorbild so hoch, so groß, so vollkommen vorgestellt, wie
ihr das überhaupt möglich war; aber dieses Vorbild, das sie der Geschichte entliehen
oder das ihre Einbildungskraft als ein großartiges Phantom erschaffen hat, ist nicht sie
selbst; wenn dieses Vorbild nur ihre eigene Größe hätte, wie schwach und klein wäre
dann ihre Darstellung! Wenn sie sich durclr unablässige Arbeit dieser Idee so weit wie
möglich genähert hat, ist alles fertig; es festzuhalten ist dann nur noch eine Frage der
Übung und des Gedächtnisses.)205
~°5 Denis Diderot, Paradoxe sur le comédien, in: ders., Œuvres complètes, hrsg. v. Jules Assézat und
Maurice Tourneux, 20 Bde., Paris 1875-1877, Bd. 8, S. 366 (Übers, v. Friedrich Bassenge und
Theodor Lücke, zit. n. Denis Diderot, Ästhetische Schriften, 2 Bde., Berlin/Weimar 1967, Bd. 2,
S. 485 f. Kleinere Korrekturen an der Übersetzung der beiden Autoren werden im folgenden nicht
eigens vermerkt.)