Hans Tietze Wiener Gotik im XVIII. Jahrhundert
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tektonischen Komplexe immer mehr und am Ende des XVIII. Jhs. ist die Auflösung zum
Chaos gediehen.
In den Vierzigerjahren beginnt wie in der Malerei und Plastik auch in der Architektur
eine gegenläufige Bewegung sich geltend zu machen, die man als älteren Klassizismus oder
ähnlich bezeichnet hat, deren breitere Analyse ich aber wegen der allgemeinen Bedeutung
der Frage hier nicht hereindrängen, sondern an anderer Stelle geben möchte; hier sei nur
darauf hingewiesen, daß diese allgemeine europäische Bewegung an die Probleme des
Cinquecento anknüpft und daß nur jenes Überwuchern der Theorie und der literarischen
Einflüsse ihr die scheinbare Richtung auf die Antike gibt. Diese vor die Auslösung des
schrankenlosen Subjektivismus zurückleitende Architektur beginnt mit der Schaffung neuer
Fig. 113 Ursprüngliches Kuppelprojekt der Kladruber Kirche nach einer Zeichnung im .Stiftsarchiv Melk
objektiver Grundlagen, d. h. einer neuen Konvention, deren die Architektur auf die Dauer
nicht entraten kann. Innerhalb dieser neuen Richtung ist für die Gotik kein Platz; die
um ihre Existenz kämpfende neue Tektonik kann um so weniger Duldung üben, als sie,
von den zahlreichen feindlichen Elementen jener geistigen Hauptströmung aufgerieben,
bald ihres ursprünglichen Sinnes beraubt ist und ein ebenso schattenhaftes Dasein fristet
wie die Gotik, die sie bekämpfte.
Das bisher geschilderte Verhältnis zur Gotik spiegelt sich deutlich in der allgemeinen
Bedeutung des Wortes in den literarischen Quellen wider; in der ersten Hälfte des Jahr-
hunderts überwiegt der Sinn des Altertümlichen und Ungebräuchlichen ohne verächtliche
Nebenbedeutung (J. L. Frisch, Teutsch-latein. Wörterbuch, 1741, I 361, Modus aedificandi
hodie obsoletus; Jabionski, Lexikon der Künste und Wissenschaften 1746: die gotische Bau-
kunst ist beständig und prächtig, auch zierlich, wiewohl in einer Art der Zierlichkeit, darum
sie den heutigen Baumeistern nicht gefallen will17). In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
dringt aber die Bedeutung ein, die das Wort bei englischen und französischen Autoren be-
saß; diese verwenden das Wort im Anschlüsse an Vasari, Lomazzo usw. und trennen seine
Bedeutung „barbarisch, geschmacklos“ auch von der Bezeichnung' von mittelalterlichem Bau-
stil oder Baustil im allgemeinen überhaupt los. So verwendet es Addison (Spectator, Nr. 63)
17) Lüdke, „Gotisch“ im XVIII. und XIX. Jh. in Zeitschrift für deutsche Wortforschung IV 1903.
Kunstgeschichtliches Jahrbuch der k. k. Zentral-Kommission 1909
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tektonischen Komplexe immer mehr und am Ende des XVIII. Jhs. ist die Auflösung zum
Chaos gediehen.
In den Vierzigerjahren beginnt wie in der Malerei und Plastik auch in der Architektur
eine gegenläufige Bewegung sich geltend zu machen, die man als älteren Klassizismus oder
ähnlich bezeichnet hat, deren breitere Analyse ich aber wegen der allgemeinen Bedeutung
der Frage hier nicht hereindrängen, sondern an anderer Stelle geben möchte; hier sei nur
darauf hingewiesen, daß diese allgemeine europäische Bewegung an die Probleme des
Cinquecento anknüpft und daß nur jenes Überwuchern der Theorie und der literarischen
Einflüsse ihr die scheinbare Richtung auf die Antike gibt. Diese vor die Auslösung des
schrankenlosen Subjektivismus zurückleitende Architektur beginnt mit der Schaffung neuer
Fig. 113 Ursprüngliches Kuppelprojekt der Kladruber Kirche nach einer Zeichnung im .Stiftsarchiv Melk
objektiver Grundlagen, d. h. einer neuen Konvention, deren die Architektur auf die Dauer
nicht entraten kann. Innerhalb dieser neuen Richtung ist für die Gotik kein Platz; die
um ihre Existenz kämpfende neue Tektonik kann um so weniger Duldung üben, als sie,
von den zahlreichen feindlichen Elementen jener geistigen Hauptströmung aufgerieben,
bald ihres ursprünglichen Sinnes beraubt ist und ein ebenso schattenhaftes Dasein fristet
wie die Gotik, die sie bekämpfte.
Das bisher geschilderte Verhältnis zur Gotik spiegelt sich deutlich in der allgemeinen
Bedeutung des Wortes in den literarischen Quellen wider; in der ersten Hälfte des Jahr-
hunderts überwiegt der Sinn des Altertümlichen und Ungebräuchlichen ohne verächtliche
Nebenbedeutung (J. L. Frisch, Teutsch-latein. Wörterbuch, 1741, I 361, Modus aedificandi
hodie obsoletus; Jabionski, Lexikon der Künste und Wissenschaften 1746: die gotische Bau-
kunst ist beständig und prächtig, auch zierlich, wiewohl in einer Art der Zierlichkeit, darum
sie den heutigen Baumeistern nicht gefallen will17). In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
dringt aber die Bedeutung ein, die das Wort bei englischen und französischen Autoren be-
saß; diese verwenden das Wort im Anschlüsse an Vasari, Lomazzo usw. und trennen seine
Bedeutung „barbarisch, geschmacklos“ auch von der Bezeichnung' von mittelalterlichem Bau-
stil oder Baustil im allgemeinen überhaupt los. So verwendet es Addison (Spectator, Nr. 63)
17) Lüdke, „Gotisch“ im XVIII. und XIX. Jh. in Zeitschrift für deutsche Wortforschung IV 1903.
Kunstgeschichtliches Jahrbuch der k. k. Zentral-Kommission 1909
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