Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

DOI Heft:
Heft 7
DOI Artikel:
Kristeller, Paul: Martin Schongauers Kupferstiche
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0361
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
wir noch heute, wenigstens an
einzelnen, seltenen Abdrücken,
in ungemindertem Glänze ge-
messen können. Für die Technik
des Kupferstiches ist Schongauer,
der Sohn eines Goldschmiedes und
auch wohl selber in diesem Ge-
werbe ausgebildet war, ein Bahn-
brecher gewesen, der Johannes
der Täufer Albrecht Dürers, sein
und ungezählter deutscher und
fremder Stecher Lehrer und Vor-
bild.

Während man vorher die um-
rissenen Formen nur mit fast
wirren Massen unterschiedloser
starrer Strichelchen zu modellie-
ren vermochte, hat er zuerst,
auch für die Innenzeichnung und,
in regelmässigen Gruppierungen,
für die Modellierung, den einzel-
nen, fest gezogenen Kupferstich-
linien Geltung verschafft und
ihnen Beweglichkeit in Richtung
und Ausdehnung gegeben. Die
saubere Klarheit seiner geschmei-
digen Linienbildungen lässt zum
ersten Male die Entwicklungs-
möglichkeiten der Grabstichel-
kunst deutlich erkennen. Sein
technisches System ist der Aus-
gangspunkt für die ganze Ent-
wicklung des Linienstiches bis in
die Zeiten Raffael Morghens und
seiner Nachzügler gewesen.

Diese neue, in selbstgewähl-
ter Gebundenheit freie Technik
Schongauers ist einErgebnis seiner
vollkommenen Beherrschung der
Formen und seiner höheren Bild-
gestaltungskraft. Die historische
Erfahrung lehrt, dass technische
Fortschritte in der Kunst nicht

etwa in einer äusserlichen Steigerung der mechanischen
Geschicklichkeit ihre Ursache haben, sondern in der
Notwendigkeit, für neue künstlerische Gebilde neue
Ausdrucksmittel zu rinden. Technische Neubildungen
dieser Art hängen immer mit einer stilistischen
Richtungsänderung zusammen; sie lassen sich stets auf
die Wirksamkeit stilbildender Meister zurückführen,
die, wie zum Beispiel auf dem Gebiete des Bilddrucks
Tizian und Rubens, die Technik nicht einmal selber
ausgeübt, sondern sie nur mittelbar beeinflusst zu haben
brauchen.

Die grössere Beweglichkeit und Geschlossenheit der
Komposition, die feinere Individualisierung der Körper-

MARTIN SCHONGAUER, DIE VERKÜNDIGUNG

formen und des Ausdruckes, die Schongauer erreicht
hatte, verlangten naturgemäss eine Klärung und Festi-
gung des Liniengefüges im Kupferstich. Dem sicheren
Zeichner, dem wenige Striche zur Kennzeichnung der
Formen genügten, musste die weise Sparsamkeit, durch
die jede einzelne Linie erhöhte Bedeutung und Aus-
druckskraft gewann, auch für die Gravierung zum Ge-
setz und zur Grundlage eines Systems werden.

Die lineare Tendenz, die überhaupt in der deutschen
Kunst nach der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, im
Gegensatze zur älteren Malerei, vorherrscht und ein
Entwickelungsstadium charakterisiert, ist in Schongauers
Werk besonders stark ausgeprägt und auch in seinen

337
 
Annotationen