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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 20.1922

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Heft 2
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Höhn, Heinrich: Gotische Holzplastik: im germanischen Nationalmuseum in Nürnberg
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https://doi.org/10.11588/diglit.4747#0074
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VEIT STOSS, MADONNA VOM WOHNHAUS DES KÜNSTLERS
UM 1500

Von besonderer Vollendung zeugt die mit über-
legenem Geschmack durchgeführte Behandlung
der Gewandung. Die prangenden Massen des
Mantels senken sich von den schmalen Hand-
gelenken der Muttergottes in schweren Gehängen
abwärts. Diese Faltengehänge, deren Säume in
schönen Wellen schwingen, teilen, da sie in freier
Symmetrie nach Volumen und Linienführung sorg-
sam gegeneinander ausgewogen sind, der Gesamt-
erscheinung der Figur die feste Haltung, die Ge-
schlossenheit, den klaren Wohllaut und den Schmuck-
charakter eines guten Ornamentes mit. Wie eine
Erscheinung aus den in zarten Formen und lich-
ten Farben erstrahlenden Visionen des Mystikers
Suso beglückt diese schmalschultrige Gestalt, die
fern aller irdischen Schwere und Gebundenheit

ganz in einem beseligendem Traum von Himmels-
glück zu leben scheint.*

Wie grundverschieden voneinander das Wesen
der schwäbischen und der fränkischen Plastik ist,
kann man leicht studieren, wenn man von der
eben gewürdigten überirdisch leichten Mariengestalt
nach der im gleichen Räume und nur wenige
Schritte von ihr entfernt aufgestellten Nürnberger
Maria hinüberblickt, die einst die Ecke eines Hauses
am Hauptmarkt schmückte. In der Nürnberger
Figur beherrscht ein Geist die Form, der viel
weniger musikalisch, der kräftiger, man möchte
fast sagen sachlicher sich auswirkt. Ein derberes
Formideal, das in den volleren, herber gezeich-
neten und handgreiflicher ausgestalteten Gewand-
massen sowohl, als auch in dem breiten, auf
kurzem Hals sitzenden Kopf der Maria und dem
massigen Körper des Kindes sehr deutlich wird,
hat da Gestalt gewonnen. Die Figur gehört zum
Bedeutendsten, was das Museum besitzt. Der ent-
schieden gewölbte Kopf, der leicht zur Seite sich
neigt, und namentlich der am Boden schleppende
Mantel und seine berauschend reichen seitlichen
Faltenmassen, die gleich überreifen Trauben schwer
hängen, erinnern in der Formbehandlung an Stein-
plastik und nehmen mit machtvoller Eindringlich-
keit von unserem Gedächtnis Besitz. Denn be-
wunderungswürdig groß hat der Meister das Leben,
das im Gewandgewoge und in dem gesund-frischen
Antlitz der Maria atmet und jede Form strafft
wie der neubelebte Lebenssaft Stamm und Äste
eines jungen Baumes im Frühjahr, in bestimmt
gegliederten Flächen, Hebungen und Senkungen
und einem zügigen, bestimmt geführten Umriß,
der etwa ein Oval beschreibt und von keiner
irgendwie wesentlichen Ausladung unterbrochen
wird, zusammengehalten. So kam hier eine Schöp-
fung von ruhevoller monumentaler Haltung zu-
stande, während die schwäbische Maria zu einem
lyrisch-feingliedrigen, malerisch-wechselreichen Ge-
bilde erblühte. Einen besonderen Zauber übt die
fränkische Figur noch dadurch aus, daß das alte
Gold des Mantels durch die schwärzliche Patina
wohlerhalten und mit magischer Gewalt hindurch-
strahlt. — Eine Zeit lang hat man irrtümlich ein
schönes Werk tiroler Schnitzkunst aus Tschengeis

* Die Augen von Mutter und Kind bestehen aus Kupfer-
emailplatten, die wohl spätere Zutaten sind. Die Krone ist
nicht die ursprüngliche.

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