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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 23.1925

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Heft 12
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Wellington, Hubert: Die neuste Malerei in England, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4653#0477
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Zeitalter beherrschte. Es wurde mit John ein Kul-
tus getrieben, der seiner Künstlerschaft und Weiter-
entwicklung nicht zuträglich sein konnte. Aber
sein eingeborenes Talent ist echt und hat in sei-
ner Zeit nicht seinesgleichen. Die glänzende Tech-
nik, die bestrickende und bahnbrechende Persön-
lichkeit Johns verliehen nicht nur seiner und der
nächsten Generation Farbe, sie verhalfen auch der
Slade-Schule zum Siege, die auf das Studium der
Meister der Renaissance, auf das traditionelle Zeich-
nen und Komponieren größeren Nachdruck legte
als auf die Wiedergabe des optischen Eindrucks,
und sich der neu-akademischen vom Impressionis-
mus hinwegführenden Bewegung anschloß.

Vielleicht das interessanteste Ergebnis solcher
Tendenzen ist die Erscheinung Henry Lambs, der
trotz seines ruhigeren Temperaments allmählich
Werke schuf, die große Ehrlichkeit mit lebhafter
Phantasie verbinden; Johns Studienfreund Orpen,
dem eine erstaunliche Technik und eine seltene
Leichtigkeit des Schaffens zu Gebote stand, wurde
in kurzer Zeit ein bekannter und beliebter Maler.
Nachdem er geadelt und Mitglied der Akademie
geworden war, hat er sich zum berühmtesten und
gesuchtesten Porträtmaler der englischen Gesell-
schaft entwickelt und nimmt heute eine ähnliche
Position ein wie zu Anfang des neunzehnten Jahr-
hunderts der Akademie-Präsident Sir Thomas Law-
rence. Seine glänzenden deskriptiven und male-
rischen Gaben rechtfertigen diese Ausnahmestellung,
aber seine Kunst ist in ästhetischer Hinsicht weder
bemerkenswert noch von Einfluß gewesen. Seine
Malerei fällt unter die Kategorie der „angewand-
ten" Kunst, ein Ausdruck, den Roger Fry für Sar-
gents Porträts erfunden hat. Die Betonung des
Zeichnens, als Grundlage jeder Malerei, das Prin-
zip der Slade-Schule wird von Künstlern wie Ran-
dolph Schwabe und Colin Gill systematisch über-
nommen und hat eine ganze Generation beeinflußt.

Einige gleichzeitig mit John schaffende Künst-
ler jedoch sahen in Frankreich das Land ihres Heils.
Spencer Gore und Harold Gilman waren nicht
Anhänger der romantischen und dekorativen Rich-
tung, sie erstrebten für ihre Bilder eine intime und
ehrliche Wiedergabe des Lebens. Für solche Zwecke
war die lineare Zeichenkunst, die den Tonwerten
wenig Beachtung schenkte, nicht zu brauchen.
So wandten sie sich denn unter Walter Sickerts
Führung Whistler und den französischen Impres-

sionisten zu und fanden ihre Eigenart in Land-
schaftsbildern und Interieurs, deren Figuren sie
mit der äußersten Feinheit und Richtigkeit in den
Raum und gegen den Hintergrund stellten, und
in denen sie die Farbe zu immer größerer Rein-
heit entwickelten. Gore hatte einen sehr persön-
lichen Farbensinn und ein feines Gefühl für das
Licht, Gilman aber ging weiter, indem er die aus-
schließliche Benutzung der reinen Farbe zum Dogma
erhob, so daß er einer der ersten englischen Künst-
ler war, bei dem sich der Einfluß der Neo-Impres-
sionisten und van Goghs auswirkte. Der frühe
Tod dieser beiden Freunde (der eine starb 1914,
der andere 1919) zu einem Zeitpunkt, als sich
ihre künstlerische Entwicklung, sowohl in der Kom-
position wie im Rhythmus, dem Höhepunkt näherte,
bedeutet für die englische Kunst einen schweren
Verlust.

Noch einige andere Maler hatten sich den fran-
zösischen Einflüssen nicht verschlossen und es ist
bemerkenswert, daß Lucien Pissarro, der Sohn Ca-
mille Pissarros sich ganz in England niederließ,
wo er jetzt noch sehr schöne, in Licht und Luft
gebadete Landschaften in der rein impressionisti-
schen Tradition produziert. Die meisten englischen
Künstler ahnten jedoch kaum etwas von der un-
geheuren Tragweite der in Frankreich sich voll-
ziehenden Entwicklung; viele kannten nicht ein-
mal Cezanne dem Namen nach, von dem ein oder
zwei weniger bedeutende Werke in London aus-
gestellt worden waren.

Im Jahre 1905 eröffnete Durand-Ruel eine große
Impressionisten-Ausstellung, in der sich eine ganze
Anzahl Renoirs befanden. Ihr folgten in den Jahren
1910 und 1912 zwei große, von Roger Fry ver-
anstaltete Ausstellungen der Nach-Impressionisten
von Cezanne, Seurat, Gauguin und van Gogh bis
zu Matisse und Picasso. So wurde dem Publi-
kum im Lauf von wenigen Jahren die volle Be-
deutung und Tendenz der modernen Bewegung in
der Malerei vor Augen geführt. Die älteren Maler
waren entsetzt, blieben aber unerschüttert. Für
jüngere und kühnere Geister jedoch war dies neue
Erleben die Offenbarung ihrer eigenen, ihnen selbst
unklaren Gefühle, eine Saat, die reiche Frucht tra-
gen sollte. Künstler wie John und seine Kollegen,
die den Naturalismus abgelehnt hatten, stellten sich
auch der impressionistischen Technik, ihrer Sehens-
weise und ihren koloristischen Entdeckungen schroff

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