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II. Geschicktlieher Umriß
große Frankreich aber besann sich zu gleicher Zeit einer ernsteren Formsprache
und bediente sich dieser in einer großen Anzahl von Bauten, die rings im Lande
entstanden.
So bringen Nantes (unter J. Jul. Gabriel 1667—1742), Dijon (unter Martin-
de Noinville 1681), Lyon; Bisanz {Nicole 1701—84) selbständige Schöpfungen hervor,
die einem völkisch-akademischen Geiste entwachsen sind, wenngleich auch mehr
akademisch als völkisch, so doch im strikten Gegensatz zur Versailler Hofkunst.
Bisanz vor allem weist in seiner Madeleine schon auf Soufflot und Servandoni
hin, also auf jene Männer des Klassizismus, die als Kirchenerbauer der Ilauptstadt
Paris die größten Denkmäler geschenkt haben.
Die Wurzel solch bürgerlich-akademischer Kunst liegt im wesentlichen in
der Pariser Bauakademie, die Francois Blondel im Jahre 1671 gegründet
hatte. Diese Schule ist die erste Kulturtat des Klassizismus in Frankreich ge-
wesen. Sie verwelkte und verarmte nicht in eigensinniger Inzucht, sondern er-
reichte durch ihr fortwährendes Hinweisen auf das klassische Kunstland Italien,
sowie auch durch die ersten Preise für hervorragende Leistungen, die den Auf-
enthalt (zumeist in Rom) auf längere Jahre ermöglichten, daß ihre Jünger bei
aller Schulung doch Individualitäten bleiben konnten, sofern sie von vornherein
nur Anlage dazu hatten. Wenn also Paris mit Recht als IJochschule der klassi-
zistischen Baukunst gerühmt werden muß, so darf Rom als jene Stätte dabei
nicht vergessen sein, die dem Schüler die notwendige Praxis sich anzueignen
ermöglichte. Diese römische Praxis verliert sich aber nur selten in archäologische
Studien — meist kehrt der Schtiler zurück, und seine Werke werden franzö-
sischeWerke, bleiben akademisch, bleiben pariserisch trotz des römisch-klassi-
schen Einschlags.
Solch streng wissenschaftliche Schulung hat Frankreich bis zum Beginn
der Romantik beherrscht. Sie schuf einen allgemeinen Geschmack, dem sich die
Gesellschaft fast aller Länder unterwarf — von dem Akademiebegründer Francois
Blondel (1617—83) an bis auf das Freundespaar Percier und Fontaine, den Künstlern
des ersten Kaiserreiches. Auf des alten Blondel Werk „cours d’architecture“ (1675)
und Perraults Säulenbuch (1683) folgt Desgodetz’ Abhandlung über die Altertümer
Roms, Daviler gibt einen „cours d’architecture“ heraus (1691), den Chr. Sturm
1699 ins Deutsche übersetzt. Cordemoy schreibt in seinem traite de l’architecture
über die Wahrheit der Form und Jacques Fr. Blondel über die „architecture
francoise“ (1752—56), die „distribution des maisons de plaisance“ und die „deco-
ration des edifices en general“ (1737).
Inwiefern fiir die Entwicklung des Wohnhauses zurnal diese Werke wichtig
sind, wird weiter unten *) erörtert werden müssen — es mag hier genügen, aus
der kaum übersehbaren Menge des theoretischen Materials auf die Art und Weise
hingewiesen zu haben, wie die Pariser Akademie Schule machte.
Von allen den genannten Werken war vielleicht keines von so großer Trag-
weite als Jacques Fr. Blondels Abhandlung über die architecture francoise, deren
Entstehen mitten in die Regierungszeit Ludwigs XV., des Bien-aime (1715—74)
fiel. Das ist eigentlich seltsam: Ein akademisch-strenges Buch über die Baukunst
erscheint mitten in der Zeit des Rokoko! Der Name „Rokoko“ ist ja dazu an-
getan, im Laien ein Bild zu wecken, ähnlich etwa den Gemälden des Watteau
und Boucher — und doch sind in Wahrheit diese Bilder nur Verzierungen, nur
der Rahmen jener schon gärenden, kreißenden Zeit, die der französischen Revolu-
tion vorausging. Denn die Kunst des Rokoko war ebensowenig wie die Kultur
des Rokoko im Grunde einer iustig leichten, sondern einer kritischen Strömung
Vgl. Wohnhausbau.
II. Geschicktlieher Umriß
große Frankreich aber besann sich zu gleicher Zeit einer ernsteren Formsprache
und bediente sich dieser in einer großen Anzahl von Bauten, die rings im Lande
entstanden.
So bringen Nantes (unter J. Jul. Gabriel 1667—1742), Dijon (unter Martin-
de Noinville 1681), Lyon; Bisanz {Nicole 1701—84) selbständige Schöpfungen hervor,
die einem völkisch-akademischen Geiste entwachsen sind, wenngleich auch mehr
akademisch als völkisch, so doch im strikten Gegensatz zur Versailler Hofkunst.
Bisanz vor allem weist in seiner Madeleine schon auf Soufflot und Servandoni
hin, also auf jene Männer des Klassizismus, die als Kirchenerbauer der Ilauptstadt
Paris die größten Denkmäler geschenkt haben.
Die Wurzel solch bürgerlich-akademischer Kunst liegt im wesentlichen in
der Pariser Bauakademie, die Francois Blondel im Jahre 1671 gegründet
hatte. Diese Schule ist die erste Kulturtat des Klassizismus in Frankreich ge-
wesen. Sie verwelkte und verarmte nicht in eigensinniger Inzucht, sondern er-
reichte durch ihr fortwährendes Hinweisen auf das klassische Kunstland Italien,
sowie auch durch die ersten Preise für hervorragende Leistungen, die den Auf-
enthalt (zumeist in Rom) auf längere Jahre ermöglichten, daß ihre Jünger bei
aller Schulung doch Individualitäten bleiben konnten, sofern sie von vornherein
nur Anlage dazu hatten. Wenn also Paris mit Recht als IJochschule der klassi-
zistischen Baukunst gerühmt werden muß, so darf Rom als jene Stätte dabei
nicht vergessen sein, die dem Schüler die notwendige Praxis sich anzueignen
ermöglichte. Diese römische Praxis verliert sich aber nur selten in archäologische
Studien — meist kehrt der Schtiler zurück, und seine Werke werden franzö-
sischeWerke, bleiben akademisch, bleiben pariserisch trotz des römisch-klassi-
schen Einschlags.
Solch streng wissenschaftliche Schulung hat Frankreich bis zum Beginn
der Romantik beherrscht. Sie schuf einen allgemeinen Geschmack, dem sich die
Gesellschaft fast aller Länder unterwarf — von dem Akademiebegründer Francois
Blondel (1617—83) an bis auf das Freundespaar Percier und Fontaine, den Künstlern
des ersten Kaiserreiches. Auf des alten Blondel Werk „cours d’architecture“ (1675)
und Perraults Säulenbuch (1683) folgt Desgodetz’ Abhandlung über die Altertümer
Roms, Daviler gibt einen „cours d’architecture“ heraus (1691), den Chr. Sturm
1699 ins Deutsche übersetzt. Cordemoy schreibt in seinem traite de l’architecture
über die Wahrheit der Form und Jacques Fr. Blondel über die „architecture
francoise“ (1752—56), die „distribution des maisons de plaisance“ und die „deco-
ration des edifices en general“ (1737).
Inwiefern fiir die Entwicklung des Wohnhauses zurnal diese Werke wichtig
sind, wird weiter unten *) erörtert werden müssen — es mag hier genügen, aus
der kaum übersehbaren Menge des theoretischen Materials auf die Art und Weise
hingewiesen zu haben, wie die Pariser Akademie Schule machte.
Von allen den genannten Werken war vielleicht keines von so großer Trag-
weite als Jacques Fr. Blondels Abhandlung über die architecture francoise, deren
Entstehen mitten in die Regierungszeit Ludwigs XV., des Bien-aime (1715—74)
fiel. Das ist eigentlich seltsam: Ein akademisch-strenges Buch über die Baukunst
erscheint mitten in der Zeit des Rokoko! Der Name „Rokoko“ ist ja dazu an-
getan, im Laien ein Bild zu wecken, ähnlich etwa den Gemälden des Watteau
und Boucher — und doch sind in Wahrheit diese Bilder nur Verzierungen, nur
der Rahmen jener schon gärenden, kreißenden Zeit, die der französischen Revolu-
tion vorausging. Denn die Kunst des Rokoko war ebensowenig wie die Kultur
des Rokoko im Grunde einer iustig leichten, sondern einer kritischen Strömung
Vgl. Wohnhausbau.