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i. Einleitung

Ein ländlich gekleidetes, doch vornehmes Paar, der Herr mit
lässig über die Schulter geworfener Pelerine, die Dame ihren
langen Mantel schürzend, steigt die erste Stufe einer ins Nichts
des leeren Bildgrundes führenden Treppe hinauf. (Abb. i) Nur
eine dünne Linie trennt diese Radierung Jean Audrans nach
Watteau von den Landschaftsausschnitten, die mögliche Auf-
enthaltsorte für das Paar angeben. Der linke Flügel eines wohl
mannshoch zu denkenden Tors aus eisernen Stäben hängt in
einem aus Quadern und Ziegeln aufgemauerten, ein wenig ver-
fallenen Pfosten. Auf einem Medaillon geben ein Greif und ein
Falke die Torwächter ab, eine Gruppe zweier sich balgender
Putti bildet die Bekrönung des Tors. Dahinter sind mit flüchti-
gem Federstrich Bäume angedeutet, die in den Bildraum des
Paares hineinragen. Dieser überschneidet die Landschaft der
rechten Seite, deren Boden höher als links, mit der Papierkante,
ansetzt. Anstelle des rechten Türflügels lagert hier eine Sphinx
unter einem alten Baum. Im Hintergrund ist ein antikischer
Rundbau zu sehen. Von oben her faßt ein Boiserien- oder
Deckenmotiv, dessen Varianten sich aus einer Bourbonenlilie
entwickeln, die Radierung ein.

Vexierbildartig ist die Randzeichnung einmal vor, einmal
hinter die Druckgraphik gesetzt. Das Weiß des Papiers ist ein-
mal betretbarer Tiefenraum, jeweils ein anderer für das Paar,
für den Garten hinter dem Tor, für die antikische Landschaft.
Ein anderes Mal erscheint es als Träger für die Radierung und,
ohne daß ein bildmäßiger Zusammenhang angestrebt würde,
für die Randzeichnung. In der linken unteren Ecke bietet diese
den Entwurf des Zeichners und Architekten Gilles-Marie
Oppenord für die »Porte du Jardin d'une Maison scize a Vitry
sur Seine«. Daß Oppenord mit diesem capricciomäßigen Blatt
ein durchaus ernstgemeintes Projekt lieferte, belegt die Zeich-
nung auf der Rückseite: der Entwurf für die Boiserie eines
Innenraums, vermutlich in derselben, unbekannten Maison de
plaisance in Vitry-sur-Seine östlich von Paris.1

Es ist hier unerheblich, wem das Haus in Vitry gehörte, wozu
es diente und wie es aussah.2 Oppenord zeigt es dem Bauherrn
im Entwurf als einen verwunschenen, von der rätselhaften
Sphinx bewachten Garten, fern jeder Alltäglichkeit, als pas-
senden Rahmen für ein der Bildwelt Watteaus, einer >fete
galante<, entstammendes Liebespaar. Verzauberung und Ab-
geschiedenheit, ungestörte Liebe und Freiheit von gesellschaft-
lichen Konventionen gehören seit der Renaissance zu den topi-
schen Bestandteilen eines jeden literarischen oder bild-
lichen Kommentars zum Leben auf dem Lande.3 Für den hier
behandelten Zeitraum, beginnend mit der Alleinregierung
Ludwigs XIV, wird der >lieu enchante<, der Eigenschaften des
>locus amoenus< aufnimmt, zum Gemeinplatz, wenn es darum
geht, ein Landhaus zu loben.4 Im Unterschied zu Oppenords

Interpretation von Watteaus >figures de differents caracteres<
ist im 17. Jahrhundert der Ort der Maison de plaisance zumeist
von Figuren der Mythologie und der Pastorale bevölkert: von
Statuen und Brunnenplastiken, von kostümierten Hofleuten bei
Festen5 oder von Bauern, wenn die Herrschaft am Abend die
Bauern für wenig Geld tanzen läßt und als die Hirten vom Lig-
non - aus d'Urfes >Astree< - zu erkennen glaubt.6 Der Garten
des frühen Versailles, den Mademoiselle de Scudery in ihrer
>Promenade< 1669 beschreibend durchwandert, »inspire
l'amour et les plaisirs ä ceux qui en ont le coeur capable«. Er ist
zugleich der Ort, an dem sich Ludwig XIV nur ausruht, um zu
neuen, kriegerischen Taten fortzuschreiten.7 Daher ist auch

1. Gilles-Marie Oppenord: >Porte du Jardin d'une Maison scize a
Vitry-sur-Seine< (Berlin, Kunstbibliothek, Hdz. 1179)
 
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