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Der Kreis: Zeitschrift für künstlerische Kultur ; Organ der Hamburger Bühne — 8.1931

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Nr. 11 (November)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43624#0681
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und Verhaltensform der Atonie keine Kausalität mehr feststellen
kann, daß die Zuständlichkeit derWelt letztenEndes ein unberechen-
barer „Würfelfall“ des Augenblicks ist. Folgender Schluß wird von
Bavink (Z, f. den Phil, Unter. II, 1, S. 25) formuliert: „Die Kontin-
genz, die bei jenem klassischen Weltbilde allein dem Anfangszu-
stande zukam, . . . diese Kontingenz verteilt sich nunmehr auf den
ganzen Weltlauf, der als einmalige (nicht wiederholte) Setzung voll-
kommen frei in seiner ganzen Erstreckung ist. M. a, W. die absolute
göttliche Willensfreiheit und die relative menschliche (innerhalb
der Grenzen, die durch sein Teilhaben an der statistischen Gesetz-
lichkeit der materiellen Natur gegeben ist), sind unmittelbare Folge-
rungen aus dem Weltbilde der neueren Physik“, Das ergibt eine
viel größere, eine mit atemloserer Spannung aufzunehmende Inein-
anderarbeit von Freiheit und Gesetzlichkeit als die monotone Natur-
dialektik Hegels, die überdies eine merkwürdige Lücke offen läßt,
wenn sie gegenüber den „gleichgültigen Zufälligkeiten und ver-
kümmernden Regellosigkeiten“ in manchen Einzelerscheinungen des
natürlichen Weltbildes auf das Ganze, auf das Gerichtetsein auf die
Idee hin, verweist und gewissermaßen vertröstet.
Seit Ibsen die verderbliche Wirkung der „idealen Forderung“ an-
schaulich gemacht hat, ist das sittliche Ideal in Verruf geraten. Die
Auseinandersetzung zwischen Ideal und Wirklichkeit, der große
Prozeß der deutschen Dichtung der Goethezeit, scheint für unsere
Zeit keinen Sinn mehr zu haben. Nennt man jemanden einen Idea-
listen, so will man ihn als lebensfremd und lebensuntüchtig be-
zeichnen, Die Erreichung des Möglichen, die Berechnung der Per-
sonen und Verhältnisse, mit denen man es zu tun hat, sind an die
Stelle eines ethischen Sollens getreten. Das Charakteristische in
der Stimmung, in den Grundsätzen des handelnden Menschen von
heute (oder gestern) ist eine merkwürdige Mischung von Determi-
nismus und Freiheit der Tat oder doch Freiheit der Richtung zur
Tat: die Triebe sind allmächtig; die Führung des äußeren Lebens
zeigt ein Ziel, dem man zustreben kann. Nicht die Sorge um die
Würde des göttlichen Seins ist es, die den Haß gegen das „Sollen“
verursacht, sondern die zornige und gerecht dünkende Enttäuschung,
die den Jäger nach dem Ideal ergriffen hat. Für Hegel ist mit Ein-
führung des Sollens die Majestät der das seiende, gelebte Leben ein-
schließenden Idee verletzt: als ob die Wirklichkeit hinter der Idee
dauernd Zurückbleiben müsse; als ob unzureichende Schwäche einer
von der Selbstbewegung Gottes sich zweifelnd ausschließenden
Subjektivität überhaupt von derPhilosophie anerkannt werden könne.
Jeder sieht hier den Bruch im System: die ausgesprochenen Ver-
neinungen wirken nicht als der fruchtbare Abgrund des Nichts,
sondern eher als ärgerliche Erscheinungen, vor denen man am lieb-
sten die Augen schließen möchte: und ein so helläugiger Philosoph
wie Hegel, ein solcher Lynkeus der Wirklichkeit sollte auch das
vor dem Sollen Nichtseinsollende in der Glut seines Blickes auf-

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