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Krenn, Margit; Winterer, Christoph
Mit Pinsel und Federkiel: Geschichte der mittelalterlichen Buchmalerei — Darmstadt: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 2009

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https://doi.org/10.11588/diglit.71566#0059
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am Anfang der Handschrift. Anders als in einem
Evangeliar konnten hier die Porträts der vier Evan-
gelienautoren nicht vor ihre jeweiligen Bücher ge-
stellt werden, denn das Evangelistar sortiert im
Normalfall nicht nach Autoren, sondern nach der
Reihenfolge der Abschnitte im Kirchenjahr. Statt-
dessen erscheinen die vier Autoren in einer Art Bil-
dervorspann vor dem gesamten Codex. Auf die
Reihe der Evangelisten folgt zudem das Bild des
thronenden Christus (Abb.28), auf dessen Rücksei-
te sich schließlich der Lebensbrunnen befindet.
Doch die Bilder demonstrieren vor allem den Rang
der Schrift. So sind hier die Evangelisten immer
dargestellt, wie sie im Schreiben innehalten und als
Zeichen der göttlichen Inspiration zu ihren heran-
nahenden Symboltieren aufblicken. Christus thront
hingegen frontal und blickt den Betrachter an. Der
mit vier kleinen und einem großen Edelstein be-
setzte Evangelien-Codex in seinem Arm verrät: Er
ist selbst die Einheit aller Evangelien. Die Ikono-
grafie des jugendlichen Christus verdeutlicht zu-
dem, dass wir hier das überzeitliche und nun
fleischgewordene Wort sehen, über das Johannes in
seinem Evangelium schreibt: „Im Anfang war das
Wort!"
Künstlerisch ist bereits dieses Bild des thronen-
den Christus ein frühes Monument der karolingi-
schen Renaissance. Im Hofskriptorium Karls des
Großen ist nach derselben Vorlage mindestens noch
zweimal ein Christusbild gemalt worden, zuletzt
gute 30 Jahre nach dem Godescalc-Evangelistar im
Lorscher Evangeliar (Alba Julia, Biblioteca Docu-
mentara Batthyäneum, R. II. 1; Rom, BAV, Pal. lat.
50). Man kann daran gut erkennen, dass die Hof-
maler das plastische Volumen der Figuren immer
stärker betonten und den Umraum immer überzeu-
gender gestalteten. Der Evangelist Matthäus im
Ada-Evangeliar in Trier (Stadtbibliothek, Cod.22),
der nicht lange vor dem Lorscher Evangeliar ent-
standen ist, kann das verdeutlichen (Abb.29).
Doch schon bei Godescalc scheint der Christus
aus einer anderen Welt zu kommen als die orna-
mentale, die menschliche Figur fast immer vermei-
dende Buchmalerei der Merowingerzeit (vgl.
Abb. 14). Und obwohl Gewand und Körper an ei-
Der thronende Christus im Paradiesgarten schließt
an die Reihe der Evangelisten im Godescalc-Evan-
gelistar an. Hofskriptorium Karls des Großen,
781-783. Paris, BnF, nouv. acq. lat. 1203, fol. 3r
(31 x 21 cm).

nigen Stellen noch ganz flach erscheinen und beim
linken Knie sogar falsch situiert sind, sieht man
hinter der ruhigen und letztendlich schon recht gut
proportionierten Figur spätantike Vorlagen durch-
scheinen. Endgültig überzeugt hiervon das Gesicht
mit dem leicht geöffneten Mund und den großen,
lebendigen Augen, die wie in der Antike absichtlich
nicht ganz symmetrisch sind. In der Ausführung
treten sogar neben den Linien, die in dieser Rich-
tung der Hofmalerei immer das Übergewicht be-
halten sollten, Weißhöhungen als Lichtreflexe und
fein abgestufte Verschattungen auf.
Der Figurenstil des Godescalc-Evangelistars ist
trotz der gemeinsamen Vorlagen in späteren Wer-
ken der „Hofschule" nicht wiederzufinden. Viel
typischer ist die recht kräftige, durch seine in sich
kontrastierende Haltung dynamisierte Gestalt des
Matthäus im Ada-Evangeliar mit ihrem längsova-
len, glatten Gesicht, dem nach hinten gerutschten
Haarkranz und dem Blütennimbus. Wie in den
meisten Evangelistenbildern der Hofschule soll hier
mit linearen Mitteln, insbesondere mit Hilfe der
komplizierten Außen- und Binnenkonturen von
Ober- und Untergewand der Anschein von Kör-
perlichkeit gegeben werden. So werden die Ge-
wandsäume im oberen Bereich in einer Folge von
nasenförmigen Konturen umgebrochen, hinter de-
nen versteifte Schachtelfalten scheinbar in die Tiefe
führen; auch die unteren Gewandsäume brechen
geometrisch um, wobei die entstehenden großen
Gewandtüten entgegen der Betrachterperspektive
in Untersicht erscheinen. Der Oberschenkel wird
mit großen Linien umrissen und noch einmal durch
sichelförmige Querfalten in seiner Plastizität be-
tont. Durch die halbrunde Exedra scheint ein Raum
um den Evangelisten zu entstehen, dessen Wirkung
zunächst durch die umfangende Thronlehne und
die in Aufsicht gegebenen Sitz- und Pultflächen un-
terstützt wird. Die nur scheinbar atmosphärische
Landschaft, in der Pult und Thron - paradoxerwei-
se nur in ihren unteren Teilen - stehen, lässt aber
das additive Verfahren des Malers erkennen, bei
dem der Hintergrund als eine Schicht gestaltet ist,
auf die das Mobiliar und später die Figur nur aufge-
legt sind, in die aber beides nicht integriert wird.
Innerhalb der großen Konturen sind längst nicht
alle Evangelistenfiguren der Hofschule gleichartig
gestaltet. Bei dem prachtvollen Evangeliar etwa, das
später Ludwig der Fromme dem Kloster Saint-Me-
dard in Soissons stiftete (Paris, BnF, lat. 8850), sind
sehr unterschiedlich arbeitende Maler zu beobach-
ten, die aber die beschriebenen Schemata als Rah-

59 1. Antikes Erbe und
neue Wege in der
Karolingerzeit
 
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