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Krummer-Schroth, Ingeborg
Die Schatzkammer des Reichenauer Münsters — Konstanz, 1962

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https://doi.org/10.11588/diglit.28051#0011
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Einleitung

Wer heute die Schatzkammer der alten Abteikirche zu Reichenau-Mittelzell be-
tritt, findet in dem schönen spätgotischen Raum, der mit dem Chorneubau seit
1443 unter Abt Friedrich von Wartenberg (1427 bis 1453) erbaut wurde, noch
Kunstschätze von hohem Rang und geschichtlicher Bedeutung. Aber das Erhaltene
ist ein spärlicher Rest ehemaliger Pracht und Vornehmheit des weithin be-
rühmten Kirchenschatzes. Aus Berichten in Reichenauer Chroniken 1, Dichtungen 2
und alten Verzeichnissen 3 wissen wir von kostbaren Werken der Gold- und Sil-
berschmiedekunst, Weberei und Stickerei, die jetzt verloren sind. Sie wurden
verbraucht und abgenutzt, verschenkt und verkauft oder eingeschmolzen und ge-
stohlen 4, wie manches Buch der berühmten Bibliothek, die auch zu den Schätzen
des Inselklosters gehörte.

Fiir die mittelalterlichen Menschen bedeutete das Wort „Schatzkammer“ nicht
allein die Ansammlung kostbarer Werke aus Gold, Silber, Edelsteinen und
Schmelzen (Emails), sondern vor allem „das Heiltum“ (Hailthumb): den Schatz
der Reliquien. Das höchste Gut, das man erwerben konnte, war die segensreiche,
wunderwirkende Kraft der Heiligen, die aus ihren Gebeinen und anderen Re-
liquien den Gläubigen zuströmt. Seit dem 8. und 9. Jahrhundert nahm die Ver-
ehrung der Reliquien im Abendland immer mehr zu. Man grub die Gebeine der
Märtyrer und Heiligen auf den Friedhöfen aus und übertrug sie in Kirchen und
Klöster, verschenkte oder verkaufte sie. Aus dem Orient, aus Italien und den
Stätten ihrer Martyrien im Norden holte man sich die ersehnten „Heiltümer“.
Gleichzeitig mit den Übertragungen (Translationen) der Reliquien setzte freilich
auch ein Verkauf von Fälschungen ein, so daß die Reliquien mit Echtheits-
vermerken (Authentiken), die auf Pergamentstreifen geschrieben sind, bezeichnet
wurden. 1870, bei der letzten öffnung des Oberzeller Kästchens (Kat. Nr. 3;
Abb. 6), waren darin noch die Authentiken auf Zetteln des 10. und 11. Jahrhun-
derts erhalten 5. Sie sind auch noch an den sichtbaren Reliquien der barocken
Ostensorien (Kat. Nr. 36; Abb. 51) vorhanden. Da jedoch auch Authentiken ge-
fälscht wurden, mußte die Wunderkraft der Reliquie selbst als Echtheitsbeweis
wirksam werden. In der Schrift über die „Miracula Sancti Marci“ (um 930) er-
zählt uns ein Reichenauer Mönch des 10. Jahrhunderts von der durch Wunder-

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