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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 71.1921

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F.: "Kunst und Weltanschauung"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8622#0072
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nur in der Arbeit sittliche Kraft und die Energie
kulturellen und künstlerischen Wollens ruht. Sie ist
jedenfalls fruchtbarer als alle Diskussionen und sie
bietet der Kunst jedenfalls mehr Anregung als alle
Bestrebungen, die Kunst nach der Schematik der
Politik zu „proletarisieren". Wie eine solche
zwangsläufige Proletarisierung der Kunst auch beim
besten Wollen in verhängnisvolle Irrtümer sich
verrennen kann, hat Professor Boris Sokolow in
einem Vortrag über die von ihm gründlich studierte
Kunst der russischen Revolution dargelegt, über
den wir einem Bericht der Prager Presse folgendes
entnehmen: „Eine neue Zeit begann im russischen
Geistesleben mit dem Bolschewismus. Als Strömung
schärfster Revolution riß er die jungenschöpferischen
russischen Elemente mit sich und sie erblickten in
ihm die Erfüllung. Der Kommunismus als reiner
Marxismus mit seinem inhärenten Vereinfachungs-
drang mußte jedoch der Ideologie des russischen In-
dividualismus feindlich gegenübertreten. Und die
Folgen dieser Umwälzung enthüllt uns die Geschichte
der letzten drei Jahre, die Geschichte des Suchens
nach einer neuen Wahrheit, nach neuer Kunst, der
proletarischen Kunst. Wir müssen drei Perioden
der bolschewistischen Kunst unterscheiden.

Die erste Periode oder die Periode des freien
Suchens. Vernichtung des Alten, absolute Negation
dessen, was dem Gestern angehörte. Die extrem
linken Elemente unter den Künstlern gelangten
zur Diktatur. Wenn auch die Welle der Revo-
lution den Bereich der Schöpferkraft nicht voll-
ständig durchdringen konnte, so war ihre nächste
Folge doch die, daß die extremsten Künstler, vor
allem die Futuristen, Kubisten und Suprematisten
tonangebend wurden. Tatlin und Steinberg wurden
lediglich auf Grund ihrer futuristischen Tendenzen
zu den obersten Administrativstellen in der Kunst
berufen, sie verwalteten Museen und wurden
von der Sowjetregierung mit Geld überschüttet.
Doch schufen neben den Futuristen und Kubisten
auch Anhänger der alten akademischen Richtung
weiter. Sokolow gesteht zu, daß die Schöpferkraft
dieser Periode eine große war. Jedenfalls kann
man sich beim Anblick der Beispiele, die im An-
schluß an den Vortrag auf der Projektionsleinwand
vorgeführt wurden, dem Eindruck nicht verschließen
daß die Wucht der Schöpfungen dieser Periode, ich
erinnere an die verschiedenenFreiheitsdenkmäler und
die Büsten Bebels, Marx' und anderer, überwältigt.
Unwillkürlich erinnert man sich an altägyptische Py-
ramiden oder die Kolossalbauten der Barockzeit.
Kantig, schnörkellos, unverziert, schlicht wie die rus-
sische Volksseele, möchte man sagen. Lyrik liegt in

dieser primitiven Anschauungsweise. Unverständlich
bleiben bloß die suprematistischen Übertreibungen,
zu deren richtigen Vorstellung allerdings mangels der
Farbenwirkung ein Skioptikonbild nicht hinreicht.

Die zweite Periode oder die Periode des erzwun-
genen Suchens. Grundlage des Verständnisses ist
die Erziehung. Das gilt auch für die Kunst. Wenn
Kamenew sagte: Nur die Richtung der Kunst, die
das Proletariat verstehen kann, hat ein Recht auf
Unterstützung des Staates, so kann dies bei dem
Mangel an nötiger Schulung im russischen Volke
nicht weiter wundernehmen, wenn man bedenkt,
daß die Kunst auch bei den weit gebildeteren west-
europäischen Völkern noch durchaus kein Gemein-
gut ist. Charakteristisch für diese zweite Periode,
sagt Sokolow, ist das Abstreifen alles dessen, was
an die vorangegangene verhaßte bourgeoistische
Epoche erinnert. Auch die noch vor kurzem ver-
götterten Künstler und ihre Kunst fallen als Er-
scheinungsformen bourgeoistischer Anschauungen
und die Bolschewiken gehen daran, eine rein
proletarische klassendurchgeistigte Kunst zu suchen.
Welche Merkmale soll nun diese neue Kunst
haben? Sie muß vor allem von der Vergangenheit
losgelöst, erfinderisch sein und die Züge des Prakti-
zismus tragen. Die Kunst des Jahres 1919 wird
zum Prüfstein der soziologischen Ideologie. Der
Kollektivismus soll in der Kunst den Indivi-
dualismus ersetzen. In der Praxis führte diese
theoretische Umgrenzung zu dem Ergebnis, daß
der proletarische Künstler seine Leistungen den
Bedürfnissen des proletarischen Staates anpassen
mußte. Der Maler malte heute Gemälde, morgen
Plakate, übermorgen Ankündigungen, der Bild-
hauer schuf neben Statuen Amtssiegel usw. Nur
diese Arbeitsmaxime gab dem Künstler das Recht,
sich als Gleichberechtigter neben den anderen Arbei-
ter zu stellen und entsprechende Honorierung zu ver-
langen. Die Sowjetregierung wollte zum Naturalis-
mus in der Kunst zurückkehren. Dadurch verlor sie
die Anhängerschaft der meisten suchenden Künstler.

Die dritte Periode oder die Periode des Falles: Die
Revolution hat heute ihr Ende erreicht. Die meisten
russischen Künstler stehen heute abseits. Die Schöp-
ferkraft trat zurück; was geschaffen wird, ist entweder
Ausführungalter Entwürfe oderErzeugnis der Kunst-
industrie, die an die Stelle künstlerischer Schöpfung
trat. Rußland bewies praktisch die Unmöglichkeit
einer speziell,proletarischen" Kunst. Und so kommt
es im Jahre 1920 zur Liquidierung der Proletkulte in
allen Kunstrichtungen. Was geschaffen wird, gehört
sämtlichen Kunstrichtungen an, spezifisch bolsche-
wistische Kunstwerke gibt es nur noch wenig." F.

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