Hessische Kunstausstellung <1917, Darmstadt> [Hrsg.]; Städtisches Ausstellungsgebäude auf der Mathilden-Höhe <Darmstadt> [Hrsg.]; Städtisches Ausstellungsgebäude auf der Mathilden-Höhe <Darmstadt> [Hrsg.]: Hessische Kunstausstellung Darmstadt 1917: illustrierter Katalog ; 14. Juni bis 30. September 1917 ; Städtisches Ausstellungsgebäude, Mathildenhöhe (Darmstadt, 1917)

gesättigten Menschheit erteilen wird? Eins ahnen,
wissen und erleben wir schon heute: Die Erschütterungen
dieser gewaltigen Zeit haben in den Herzen der Menschen
. einen ungekannten Reichtum allermenschlichster Empfin-
dungen geweckt. Nächstenliebe, Opferbereitschaft, Entt
sagung, tiefinnerliches Erbarmen und Verstehen von
Mensch zu Mensch, Demut und Ehrfurcht sind wieder
groß geworden. Dieses neuerwachte Gemüts- und
Seelenleben, das sich in einem Drange nach religiöser
Vertiefung äußert, in einem Sehnen und Greifen
nach allem, was Seelennahrung, Brücke und Band zu
Unvergänglichem bedeutet, verlangt nach dem Göttlichen
in der Kunst, verlangt von ihr Antwort und Erfüllung
dunkler Sehnsucht. Denn was war bisher vielen von
uns — den Erben einer hochgesteigerten Zivilisation,
verwöhnt durch Technik und Komfort, gesättigt von
erfolgreicher Wissenschaft — letzten Endes Künsilerschaft
und Kunstwerk? Gab nicht vielmehr erhöhtes Wohlsein,
genießerhaftes Asthetentum, ein letztes Sinnenraffine-
ment häufig den Anstoß, der so manchen zur Leilnahme
an künstlerischen Darbietungen bewog? Die eindring-
lichen Lehren dieses Krieges werden einen anderen
Geist großziehen, und in die Hände der Künstler ist
die große und heilige Aufgabe gelegt, Werte zu schaffen,
die des Jnhalts dieser Zeit, der Opfer, die fie gebracht
hat, würdig sind. Unsere Qualen und Träume, unsere
Wünsche und Jdeale brauchen einen Widerhall, eine
Erhöhung und Verklärung, die nur echte Kunst uns

28