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K

Donnerstag, den 22. Iuni 1837.

Srietliche Mittheilungen allgemein-kuntt-
wit'l'ent'chaülichen Inhalts aus den Gemäldc-
tammlungen von Serlin und Dresden.

Zehnter Brief.

(Tizians Venus, Raffaels Madonna. Der Zinsgroschen?

Errata.)

Wenn Du hier über die Brücke gehst, so begegnest
Du, je nachdem Du gehst, zu Anfang oder zulezt, einem
allbekannten Manne, der Dich mit der aufgehobenen
Sanduhr und der geschwungenen Sense an das Durch-
sickern der Minuten, an das Vorüberrauschen der Zeit
mahnt. Wär' ich ein Fürst, der Heilige müßte über
allen Thoren, an allen Kreuzwegen stehen, wie er denn
hier fein Ansehen recht behauptet und allen Vorüber-
gehenden zuruft: .-Nutzet die Zeit!" Er meint dann frei-
lich : ..Bleibet stehen, setzet euch auf die Bank eines Pfei-
lers und sehet hinaus in die schimmernde, glänzende Welt
und freuet euch, daß ihr sie mit euer» Augen einsaugen,
daß ihr aus der Quelle des.Lebens mit allen Sinnen
schöpfen könnt! Alles, was vor euch liegt, die duftigen
Berge, die grünen Wiesen, der glänzende, belebte Strom,
der blaue Aether, Alles ist zu euerm Entzücken da und
ist euer Cigenthum. Freuet euch!" Ich siM nmjpucl*,
«bei ich ging langsamer, und die SchölMü^-dtrserErde
erfüllte mich ganz. — Was gibt derMaiur diese Gewalt
des unbedingten Entzückens, das nie in ihr, nur in uns
feine Grenze findet? Ist es die Schönheit, so müßte
menschliche uns mehr und länger entzücken; sic es Größe,
so müßte Andacht und Güte uns ganz anders und ewig
ergreifen. Aber der leiseste Tritt des Jchs zerbricht die
Schönheit, die Andacht, die Güte. Die Natur hat
kein 2ch, oder ein so großes, daß das un>re es
nicht fassen kann; wir empfinden bei ihr nicht einmal
die Möglichkeit des Selbstbewußtseyns, wie doch im Kinde,
dessen Blicke und Bewegungen uns bezaubern. Ist das
der Zauberring, mit dem sie uns umschließt, so hat die

Kunst keine größere Aufgabe, als ihn ihr abzugewinnen. —
Unter solchen Gedanken war ich in die Gallerie gelangt
und stand, wie aus einem Traum erwachend, vor Tizians
Venns. Da ist's ja, was wir suchen! der Meister
trägt ja den Ring an seiner Hand! das ist die Schönheit
der Erde in menschlicher Form; menschliche Schönheit in
der Zone äußerer Natur, Vereinigung des Menschlich-
und Göttlich-Leiblichen. Darum wandte diese Schule schon
in frühester Kindheit sich zur Natur und verfolgte ihre
Spuren auf alle Höhen, in alle Tiefen, keine Verirrungen
und keinen Unfall scheuend, darum warb sie mit allen Kräf-
ten um ihre Geheimnisse, und warf sich ihr in die Arme
und buhlte um ihre Liebe, damit dem natürlichen Menschen
sein Recht göttlicher Abkunft noch einmal widerfahre, wie
in den Zeiten des pantheistischen Bewußtseins, und mensch-
liche Schönheit ihre Gewalt ausübe, wie der Himmel,
unter dem sie erblühet! — Komme mir Keiner vor solcher
Kunstoffenbarung mit Schulbemerkungen über eine ver-
zcichnere Hand! Als ob wir den Werth der römischen
Elegien nach den Füßen messen dürften, und nicht viel-
mehr nach den Schwingen, die sie tragen. Freilich, wer
nichts kann als Finger (SdxTuXoi) zeichnen und Füße
formen, der zeichne und forme genau! An den Genius
aber reicht der Zollstab nicht!

Viel Großes und Herrliches hat Tizian geschaffen,
und gewiß nichts, das nicht immer der Bewunderung
wcrth wäre, die es findet; aber in der Richtung, in wel-
cher die Sigenthümlichkeit der Schule sich ausspricht, sah
ich ihn nirgends so vollendet wie hier im Bilde der Venus,
in dieser Fülle unbewußter Anmuth und Schönheit. —
Wie ein Blitz fuhr mir die Verwandtschaft mit Raffael
durch den Sinn, wie entfernt auch beide von einander
stehen. Wenn wir aber die Doppelklage erheben, daß
Bewußtsepn und Beziehung nach Außen die Schönheit
verletzen und geistige Erhebung (sogar des Schmerzes)
hemmen, und Tizian in der Venus die erste unverlezt
dargestellt; war cs nicht Raffael, der in der Sirtinischen
Madonna eine göttliche Erscheinung mit der Gewalt der
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