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Borgängern auf das vollständigste. Wir finden in denselben
Nämlich den entschiedensten Realismus in der Verbindung mit
einem sehr richtigen plastischen Stylgefühl zu einer Meisterschaft
gelangt, daß daraus erhellt, wie die Niederländer in dein getreuen ,
Und geistreichen Wicdrrgebcn der einzelnen Naturerscheinung bis
auf die kleinsten Zufälligkeiten es ebenso in der Skulptur allen
andern Ländern Europas zuvorgethan haben, als dieses später \
anerkanntermaßen in der Malerei durch die van Eyck geschehen ,
ist. Im Vergleich mit der Skulptur in Italien insbesondere j

zeigte das eine kurz vor der Mitte des täten Jahrhunderts ge-
arbeitete Relief ein Studium und eine Kcnntniß der Natur und
namentlich eine Jndividnalisirung der Köpfe, eine Einfachheit und
Schlichtheit in den Motiven, womit sich die Werke der ungefähr
gleichzeitigen Bildhauer Andrea Pisano (st 1343) zu Florenz
und Filippo Calendario (st 1355) zu Venedig nicht niesten
können, indem beide den menschlichen Körper noch nach einem
gewissen Schema behandeln, in den Gesichtern noch theilwcise sich
nicht von dem Typus des Giotto frei machen können, in den !
Stellungen endlich noch öfter dem konventionell Gewundenen der
gvthischen Skulptur folgen. Erst der um 1370 blühende Nino
Pisano erreicht die naturgemäße Fülle der Formen, die Weise j
der Behandlung jenes Reliefs. Die Naturwahrheit derselben im i
Allgemeinen findet sich aber erst in den Werken des Jacopo della
Oluercia, dessen Kunstthätigkeit vom Jahr 1385 bis 1423 fällt.

Nach der genauen Betrachtung jener Skulpturen habe ich
die Ueberzeugung gewonnen, daß Tournay im Ilten Jahrhundert
für die Skulptur eine ähnliche Bedeutung in den Niederlanden
gehabt hat, wie Brügge im löten Jahrhundert für die Malerei.

Wie aber auch die ausgezeichnetsten Maler der toscanischen und
römischen Schule nach den berühmten Brvnzethürcn des Lorenzo
Ghiberti am Baptisterium zu Florenz studirt haben, so haben
auch augenscheinlich die Brüder van Eyck und noch Rogier van
der Wcyden der Aeltcre zum Studium der Skulpturen von den
so nahen Städten Brügge und Gent aus Tournay besucht. Außer
der oben bemerkten allgemeinen Verwandtschaft ihrer ganzen
Kunstrichtung mit jenen Skulpturen, spricht hicfür noch insbe-
sondere die Art und die Vortrefflichkeit der gelegentlich auf ihren
Gemälden angebrachten Skulpturen, wie die außerordentliche Vor-
liebe für den romanischen Styl in ihrem architektonischen Beiwerk,
dessen schönstes und imposantestes Denkmal in den Niederlanden,
die Kathedrale von Tournay, einen großen und bleibenden Ein-
druck auf sie ausübcn mußte.

Ich gehe jetzt zur näheren Betrachtung der einzelnen Re-
liefe über.

Das wegen der Arbeit und des Datums von 1341 bei weitem
wichtigste Denkmal ist das Grabmal deö Eolard de Scclin,
Doktors der Rechte, und seiner Familie, ein Mczzorelief von 4'/,

Fuß Höhe und 3'/, Fuß Breite, welches oben durch eine reiche
gothischc Architektur abgeschlossen wird. In der Mitte die thro-
nende Maria, welche dem Kinde die Brust reicht; zu ihrer Rechten !

kniend Eolard de Seclin mit der Mütze und dem Kostüm der |

Doktoren, hinter ihm ebenso seine Frau Jsabeau; diesen gegen-
über Nicolas de Scclin, der Sohn jener, im Kostüm eines Ser- !
geant d'Armes des Königs von Frankreich. Der plastische Styl,
wonach alle am meisten ausgeladcne Thcilc innerhalb derselben
Fläche gehalten sind, ist hier vortrefflich, die Verhältnisse der
Figuren naturgemäß. Das sehr geschmackvolle Motiv der Maria
und des Kindes ist offenbar der Natur abgelauscht. Sic hält
Nämlich mit der rechten Hand den rechten Fuß des Kindes, welches
sich mit der linken Hand an seinen linken Fuß faßt, während
seine Rechte auf der Mutterbrust ruht. Die GcsichtSzüge des
Kindes sind sehr bildnißartig, doch keineswegs unedel, ebenso sind
die Formen deö Körpers völlig und naturgemäß und gehen in
der Ausführung so sehr in das Einzelne, daß an dem einen

Aermchen und am Knöchelansatz der Füße sich die Falten der
Haut angegeben finden. Die Bewegung der Hände ist ebenso
wahr als fein, und bei denen des Kindes haben auch die Finger
die naturgemäße Fülle; die Finger der Maria, deren Kopf leider
abgeschlagen ist, sind dagegen zu lang und mager in der Art,
wie auf den Bildern Rogier van der Wcyden des Acltern. Fast
die größte Bewunderung erregt indeß die Art, wie die Gewänder
behandelt sind. Von dem Konventionell-Gothischen der Falten
mit den mageren und hohen Rippen, welches in der Regel den
Skulpturen dieser Zeit eigen ist, findet sich hier keine Spur, es
liegt denselben vielmehr eine ebenso genaue als geschmackvolle
Beobachtung der Natur zum Grunde. Die Falten vereinigen in
seltenem Maaße eine große Weiche in ihren Schwingungen mit
einer ungemeinen Bestimmtheit und Schärfe der Arbeit, und die
Ausführung geht so weit, daß nicht allein ganz in der Art, wie
bei den Bildern der van Eyck und ihrer besten Schüler, Säume
durch alle Windungen angegeben sind, sondern auch die Schwere
des Stoffes in der Art ansgcdrückt ist, daß dadurch, ganz in der
Weise, wie auf dem musterhafteu Gewände des Gott Vater auf
dem Genter Altäre von Hubert van Eyck, die Linien der Falten
stellenweise leicht unterbrochen werden. Es versteht sich fast von
selbst, daß bei einer so realistischen Ausbildung der ideellen Fi-
guren bei den Bildnißsiguren die Naturwahrheit noch mehr im
Einzelnen verfolgt worden ist. Jene drei Personen sind daher
nicht allein so individuell aufgesaßt, daß sie säst in allen Stücken,
zumal in der höchst ausgebildeten und bestimmten Gestaltung des
Mundes, den Eindruck von Bildnissen machen, welche der Epoche
der ganz vollendeten Kunst angehören, sondern die Ansführung
geht so sehr ins Einzelne, daß die Augenbrauen, die kleinen
Hautfaltcn unter den Augen, ja bei dem Sohn der ganz kurze
Bart an Kinn und Oberlippe angegeben sind. Das einzige
Konventionelle daran siud die Augen, insofern sie sämmtlich nur
halb geöffnet sind. Herr du Mortier ist geneigt, dieses Denkmal
dem Bildhauer Guilläume du Gardin bcizuincssen, von welchem
er urkundlich ermittelt hat, daß der Herzog von Brabant, Jo-
hann III., im Jahr 1341 bei ihm um den sehr bedeutenden
Preis von 200 Goldguldcn ein in der Franziskanerkirche zu
Löwen zu errichtendes Denkmal für seinen Oheim Heinrich von
Löwen und dessen Sohn und Enkel Johann und Heinrich von
Löwen bestellt hat. Da unser Denkmal dieselbe Jahrszahl trägt,
nach seiner Vortrefflichkeit gewiß von einem der besten Bildhauer
von Tournay in jener Zeit herrührt, und der Herzog natürlich
für jenen bedeutenden Auftrag einen Meister jener Schule ge-
wählt haben wird, der eines größern Rufs genoß, so hat diese
Bermuthnng allerdings viel für sich. Mit völliger Sicherheit
aber geht aus jener Bestellung hervor, daß die Bildhaucrschule
von Tournay zu jener Zeit in den Niederlanden in hohem An-
sehen stehen mußte. Dieses Denkmal der Familie Seclin, sowie
die sämmtlichcn im Besitz des Herrn du Mortier, sind ursprüng-
lich und wahrscheinlich zum Thcil mit Oclfarbcn bemalt gewesen.
Letzteres ist anzunchmen, weil in dem von Herrn du Mortier
aufgesundcncn Bestellungsvertrag jenes Herzogs von Brabant mit
dem Guilläume du Gardin an drei verschiedenen Stellen dem
Künstler vvrgeschriebcn wird, das Denkmal mit guten Oclfarbcn
(»du pointure de boines coulcurs ii olc«) zu bemalen. Diese
Stelle liefert zugleich einen neuen Beleg, daß die Mischung der
Farben mit Oel in den Niederlanden ungleich früher bekannt
und gebräuchlich gewesen, als die van Eyck, und bestätigt die
bereits im Jahr 1822 in meinem Buche über diese berühmten
Maler ausführlich erhärtete Ansicht, daß ihr außerordentliches
Verdienst in der Technik der Malerei nicht darin besteht, daß sie
zuerst Farben mit Oel gemischt, sondern .in der Weise, wie diese
Mischung zur Erreichung der höchsten Kunstzwecke in der Malerei
zu bewunderungswürdiger Vollkommenheit von ihnen ausgebildet
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