275
Bücherschau
276
Kenntnis der Skulpturen des Claus Sluter; in einem Breit-
bild der Auferweckung des Lazarus in der Berliner Samm-
lung R. von Kaufmann, das mit mancherlei Entlehnungen
von Ouwaters Berliner Bilde auch ein deutliches Hinstreben
zu Froments verzerrten Typen verbindet, kündigt sich auch
schon die energische Bewegtheit von Ouwaters Nachfolger
Oeertgen van Sint Jans an. Von diesem Meister finden
wir überraschend vieles in der Tafel mit der Legende des
hl. Mithras (Kathedrale von Aix-en-Provence): die weit-
räumige, luftige Komposition, die überschlanke hagere
Gestalt des Henkers, das naiv-frische Gesicht der Stifterin
mit der dreieckigen Zuspitzung von Kinn und Stirn, die
mitten in eilender Bewegung festgehaltenen Geharnischten.
— Gegen das Ende des 15. Jahrhunderts treten in den
französischen Gemälden wieder italienische Einflüsse stärker
hervor. Die von Brügge her bereits berühmte Pietä des
Baron d'Albenas (Montpellier) hat neben Erinnerungen
an die »Plourans«, die verhüllten Leidtragenden des Claus
Sluter (von dessen Herzogsgrab), in der nackten Gestalt
vieles von der scharf unerbittlichen Zeichnung der Pollaiuoli
und Mantegnas. Uber eine andere Beweinung Christi,
die aus Saint-Germain-des-Pres stammt und im Louvre
bewahrt wird, sagte man mir mit Recht gesprächsweise,
sie sehe aus als ob der Maler zuerst die Wiener Kreuz-
abnahme des Geertgen van Sint Jans und dann etwa den
Cima da Conegliano studiert habe.
Ein ganz ähnliches sprunghaftes Aussetzen des Zu-
sammenhangs, ein immer erneutes Hilfesuchen bei den
Großen des Auslandes tritt uns auch bei den beiden be-
deutenden Porträtmeistern entgegen, die das mittlere Frank-
reich im 15. Jahrhundert hatte. Jehan Fouquet aus Tours,
um 1450 tätig, sucht in seinen Bildnissen der höchstgestellten
Personen des Reiches eyckische Eindringlichkeit, die eyckische
Andacht zum Häßlichen und Leidensvollen im Menschen
mit der kalten Linienkühnheit und schweren Monumenta-
lität des Piero della Francesca zu vereinen. In der ent-
zückenden Kühle, mit der in seinem Antwerpener Bild
Agnes Sorel in der Rolle der Himmelskönigin ihren Busen
enthüllt, in der stolzen Gravität, mit der Jouvenel des Ur-
sins, ein naher Vetter der Prälaten Melozzos von dessen
vatikanischem Bibliotheksbild, sein Gebet zur Schau stellt,
liegt schon etwas von jener glücklichen französischen
prangenden Größe, die später aus den besten Versen der
Corneille und Hugo heraustönt. In Fouquet ist vielleicht
die Verbindung nordischen und südlichen Wesens, die den
besonderen Reiz des Gallischen ausmacht, am meisten
durchgegoren. Dagegen ist der Maler, der dreißig Jahre
später beginnend die Stifterbilder der Bourbonen malt und
den man (nach einem dort bewahrten Hauptwerk) bisher
den »Meister von Moulins« nannte, ein reiner Nordländer.
Er knüpft direkt an die Spätwerke des Hugo van der Goes
an; dies offenbart sich deutlich in seiner knospenhaft
lockenden frühen Arbeit, der Geburt Christi aus dem Erz-
bischöflichen Palast von Autun, die erst auf der Ausstellung
zur Geltung kam. Die emsig mit all ihren Runzeln durch-
gezeichneten und doch in schöner zitternder Linie bewegten
Hirten, die wunderbar beseelten Hände mit ihrer reich
belebten Haut bekunden deutlich die Abstammung von
dem großen Erschaffer des Portinari-Altars. Noch mehr
aber: dieser französische Künstler geht in seinem Weiter-
schreiten der Entwickelung der flandrischen Malerei parallel.
In dem Bilde der Himmelsglorie von Moulins ist er bei
der gleichen abgemessenen, in den Bewegungen recht
vorsichtigen, etwas langweiligen Vollendung der Form, bei
der gleichen Freude am kühlen irisierenden Licht an-
gekommen, wie sie Gerard David in der Madonna mit
den heiligen Frauen (im Museum von Rouen) und in
seiner blauen Verkündigung (Sigmaringen, Kunsthalle) auf-
weist. Das einzige fast, was der Meister von Moulins
von Fouquet übernimmt, ist die nach Hulins Meinung
wahrscheinlich durch den Meister von Tours erfundene
effektvolle Anordnung der Stifterbildnisse: der Schutzpatron
wird nicht nach niederländischem Brauche hinter den Donator
gestellt, sondern tritt, ihn empfehlend, neben ihm vor.
Wieder ein neues Vorbild aus der Fremde bringen
dann im 16. Jahrhundert die aus Flandern stammenden
Clouet in die französische Kunst: der sicher ruhigen all-
seitigen Wesenserforschung, der das Kunstmittel nach Ge-
brauch wieder verdeckenden Vollendetheit, die den Deutschen
Hans Holbein auszeichnet, eifern sie in ihren zahlreichen
Bildnissen der Könige und des Hofes nach.
Franz Dülberg.
Pinder, Wilhelm, Einleitende Voruntersuchung zu einer
Rhythmik romanischer Innenräume in der Normandie.
Straßburg, Verlag von J. H. Ed. Heitz (Heitz & Mündel),
1904. 8°., 82 S. mit 3 Doppeltafeln Abbildungen. (Zur
Kunstgeschichte des Auslandes, Heft XXIV.)
Das Werk behandelt auf einem kleinen Gebiete mittel-
alterlicher Architekturgeschichte die Entwickelung einer be-
sonderen Art von Gruppierungsgrundsätzen. In Anlehnung
an die Lehren der Psychologie weist der Verfasser darauf
hin, daß jedes Kunstwerk durch sinnvolle Anordnung seiner
Formen die durch die so erweckten Darstellungen im
Menschen sinnvoll anordnet und daß der Mensch, um
gleichmäßige Eindrucksfolgen zu bewältigen, das Bedürf-
nis fühlt, sie zu rhythmisieren, das heißt sie nach den
durch sie bewirkten unmittelbaren Zeitwahrnehmungen zu
ordnen, der Künstler aber benutzt diese Forderung nach
Rhythmisierung, indem er sie selbst in den von ihm ge-
botenen Grundlagen leistet, dem Genießenden die Leistung
selbst nimmt und ihm dafür den Gewinn gibt; er stellt
mit seinem schaffenden Willen den Rhythmus dar und
lenkt ihn mit seinem Stil. Auch auf dem Gebiete der
Baukunst bietet sich die Gelegenheit für Rhythmus dar,
sie liegt in denjenigen Sinnesbewegungen des Genießen-
den, die im Nacheinander an eine Dimension gebunden
sind, die dritte Dimension des gesehenen Raumes, ihre
Gliederung allein bietet die Möglichkeit eines Rhythmus
nach Art von dem zeitlicher Kunst gewährten. Die Mög-
lichkeit der Rhythmusbildung auf diesem Gebiete bildet
den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, die sich
einem Gebiete architektonischer Schöpfungen zuwendet, in
dem überall durch Anordnung von Formen auf gleicher
Grundlage die rhythmische Situation vollendet ist, in dem
die Anlegung, in ganz besonderer Weise zum Zweck er-
hoben, die Form gleich wichtiger Gruppierung gefunden
hat, es ist dies das Gebiet der basilikalen Anlage.
Diese entstammt der Jugend des Christentums. An
Stelle des sichtbaren Götterbildes waren der Vertreter des
unsichtbaren Gottes oder die von diesem ausgeführten
heiligen Handlungen getreten. Diesem Ungreifbaren mußten
die Empfänger zugeführt werden. Es kam dabei nur auf
die Anordnung des Innenraumes an, den der Mensch als
Ziel, als Grenzen, als Bedingungen der eignen Bewegung
gestalten konnte. Hierzu waren zwei Bestandteile des
Innenraumes nötig, das durch eine Linie gerichtete Lang-
haus und die durch einen Punkt gerichtete Apsis. Das
Langhaus zerfällt in der Regel in drei Schiffe, ein mittleres
von bedeutender Höhe und Breite beherrscht zwei gleiche,
in beiden Ausdehnungen geringere, gemeinsam allen dreien
ist nur die Größe in der dritten Dimension, die jede der
anderen beiden überwiegt. Die Apsis auf halbrunder
Grundlage schließt das Langhaus in der Mitte ab und ist
die Stätte göttlicher Wirkung, das Langhaus in gleich-
mäßiger Begleitung der reinen Tiefenaxe des Raumes die
Stätte des menschlichen zustrebenden Empfangens, nament-
Bücherschau
276
Kenntnis der Skulpturen des Claus Sluter; in einem Breit-
bild der Auferweckung des Lazarus in der Berliner Samm-
lung R. von Kaufmann, das mit mancherlei Entlehnungen
von Ouwaters Berliner Bilde auch ein deutliches Hinstreben
zu Froments verzerrten Typen verbindet, kündigt sich auch
schon die energische Bewegtheit von Ouwaters Nachfolger
Oeertgen van Sint Jans an. Von diesem Meister finden
wir überraschend vieles in der Tafel mit der Legende des
hl. Mithras (Kathedrale von Aix-en-Provence): die weit-
räumige, luftige Komposition, die überschlanke hagere
Gestalt des Henkers, das naiv-frische Gesicht der Stifterin
mit der dreieckigen Zuspitzung von Kinn und Stirn, die
mitten in eilender Bewegung festgehaltenen Geharnischten.
— Gegen das Ende des 15. Jahrhunderts treten in den
französischen Gemälden wieder italienische Einflüsse stärker
hervor. Die von Brügge her bereits berühmte Pietä des
Baron d'Albenas (Montpellier) hat neben Erinnerungen
an die »Plourans«, die verhüllten Leidtragenden des Claus
Sluter (von dessen Herzogsgrab), in der nackten Gestalt
vieles von der scharf unerbittlichen Zeichnung der Pollaiuoli
und Mantegnas. Uber eine andere Beweinung Christi,
die aus Saint-Germain-des-Pres stammt und im Louvre
bewahrt wird, sagte man mir mit Recht gesprächsweise,
sie sehe aus als ob der Maler zuerst die Wiener Kreuz-
abnahme des Geertgen van Sint Jans und dann etwa den
Cima da Conegliano studiert habe.
Ein ganz ähnliches sprunghaftes Aussetzen des Zu-
sammenhangs, ein immer erneutes Hilfesuchen bei den
Großen des Auslandes tritt uns auch bei den beiden be-
deutenden Porträtmeistern entgegen, die das mittlere Frank-
reich im 15. Jahrhundert hatte. Jehan Fouquet aus Tours,
um 1450 tätig, sucht in seinen Bildnissen der höchstgestellten
Personen des Reiches eyckische Eindringlichkeit, die eyckische
Andacht zum Häßlichen und Leidensvollen im Menschen
mit der kalten Linienkühnheit und schweren Monumenta-
lität des Piero della Francesca zu vereinen. In der ent-
zückenden Kühle, mit der in seinem Antwerpener Bild
Agnes Sorel in der Rolle der Himmelskönigin ihren Busen
enthüllt, in der stolzen Gravität, mit der Jouvenel des Ur-
sins, ein naher Vetter der Prälaten Melozzos von dessen
vatikanischem Bibliotheksbild, sein Gebet zur Schau stellt,
liegt schon etwas von jener glücklichen französischen
prangenden Größe, die später aus den besten Versen der
Corneille und Hugo heraustönt. In Fouquet ist vielleicht
die Verbindung nordischen und südlichen Wesens, die den
besonderen Reiz des Gallischen ausmacht, am meisten
durchgegoren. Dagegen ist der Maler, der dreißig Jahre
später beginnend die Stifterbilder der Bourbonen malt und
den man (nach einem dort bewahrten Hauptwerk) bisher
den »Meister von Moulins« nannte, ein reiner Nordländer.
Er knüpft direkt an die Spätwerke des Hugo van der Goes
an; dies offenbart sich deutlich in seiner knospenhaft
lockenden frühen Arbeit, der Geburt Christi aus dem Erz-
bischöflichen Palast von Autun, die erst auf der Ausstellung
zur Geltung kam. Die emsig mit all ihren Runzeln durch-
gezeichneten und doch in schöner zitternder Linie bewegten
Hirten, die wunderbar beseelten Hände mit ihrer reich
belebten Haut bekunden deutlich die Abstammung von
dem großen Erschaffer des Portinari-Altars. Noch mehr
aber: dieser französische Künstler geht in seinem Weiter-
schreiten der Entwickelung der flandrischen Malerei parallel.
In dem Bilde der Himmelsglorie von Moulins ist er bei
der gleichen abgemessenen, in den Bewegungen recht
vorsichtigen, etwas langweiligen Vollendung der Form, bei
der gleichen Freude am kühlen irisierenden Licht an-
gekommen, wie sie Gerard David in der Madonna mit
den heiligen Frauen (im Museum von Rouen) und in
seiner blauen Verkündigung (Sigmaringen, Kunsthalle) auf-
weist. Das einzige fast, was der Meister von Moulins
von Fouquet übernimmt, ist die nach Hulins Meinung
wahrscheinlich durch den Meister von Tours erfundene
effektvolle Anordnung der Stifterbildnisse: der Schutzpatron
wird nicht nach niederländischem Brauche hinter den Donator
gestellt, sondern tritt, ihn empfehlend, neben ihm vor.
Wieder ein neues Vorbild aus der Fremde bringen
dann im 16. Jahrhundert die aus Flandern stammenden
Clouet in die französische Kunst: der sicher ruhigen all-
seitigen Wesenserforschung, der das Kunstmittel nach Ge-
brauch wieder verdeckenden Vollendetheit, die den Deutschen
Hans Holbein auszeichnet, eifern sie in ihren zahlreichen
Bildnissen der Könige und des Hofes nach.
Franz Dülberg.
Pinder, Wilhelm, Einleitende Voruntersuchung zu einer
Rhythmik romanischer Innenräume in der Normandie.
Straßburg, Verlag von J. H. Ed. Heitz (Heitz & Mündel),
1904. 8°., 82 S. mit 3 Doppeltafeln Abbildungen. (Zur
Kunstgeschichte des Auslandes, Heft XXIV.)
Das Werk behandelt auf einem kleinen Gebiete mittel-
alterlicher Architekturgeschichte die Entwickelung einer be-
sonderen Art von Gruppierungsgrundsätzen. In Anlehnung
an die Lehren der Psychologie weist der Verfasser darauf
hin, daß jedes Kunstwerk durch sinnvolle Anordnung seiner
Formen die durch die so erweckten Darstellungen im
Menschen sinnvoll anordnet und daß der Mensch, um
gleichmäßige Eindrucksfolgen zu bewältigen, das Bedürf-
nis fühlt, sie zu rhythmisieren, das heißt sie nach den
durch sie bewirkten unmittelbaren Zeitwahrnehmungen zu
ordnen, der Künstler aber benutzt diese Forderung nach
Rhythmisierung, indem er sie selbst in den von ihm ge-
botenen Grundlagen leistet, dem Genießenden die Leistung
selbst nimmt und ihm dafür den Gewinn gibt; er stellt
mit seinem schaffenden Willen den Rhythmus dar und
lenkt ihn mit seinem Stil. Auch auf dem Gebiete der
Baukunst bietet sich die Gelegenheit für Rhythmus dar,
sie liegt in denjenigen Sinnesbewegungen des Genießen-
den, die im Nacheinander an eine Dimension gebunden
sind, die dritte Dimension des gesehenen Raumes, ihre
Gliederung allein bietet die Möglichkeit eines Rhythmus
nach Art von dem zeitlicher Kunst gewährten. Die Mög-
lichkeit der Rhythmusbildung auf diesem Gebiete bildet
den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, die sich
einem Gebiete architektonischer Schöpfungen zuwendet, in
dem überall durch Anordnung von Formen auf gleicher
Grundlage die rhythmische Situation vollendet ist, in dem
die Anlegung, in ganz besonderer Weise zum Zweck er-
hoben, die Form gleich wichtiger Gruppierung gefunden
hat, es ist dies das Gebiet der basilikalen Anlage.
Diese entstammt der Jugend des Christentums. An
Stelle des sichtbaren Götterbildes waren der Vertreter des
unsichtbaren Gottes oder die von diesem ausgeführten
heiligen Handlungen getreten. Diesem Ungreifbaren mußten
die Empfänger zugeführt werden. Es kam dabei nur auf
die Anordnung des Innenraumes an, den der Mensch als
Ziel, als Grenzen, als Bedingungen der eignen Bewegung
gestalten konnte. Hierzu waren zwei Bestandteile des
Innenraumes nötig, das durch eine Linie gerichtete Lang-
haus und die durch einen Punkt gerichtete Apsis. Das
Langhaus zerfällt in der Regel in drei Schiffe, ein mittleres
von bedeutender Höhe und Breite beherrscht zwei gleiche,
in beiden Ausdehnungen geringere, gemeinsam allen dreien
ist nur die Größe in der dritten Dimension, die jede der
anderen beiden überwiegt. Die Apsis auf halbrunder
Grundlage schließt das Langhaus in der Mitte ab und ist
die Stätte göttlicher Wirkung, das Langhaus in gleich-
mäßiger Begleitung der reinen Tiefenaxe des Raumes die
Stätte des menschlichen zustrebenden Empfangens, nament-