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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 15.1903-1904

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Widmer, Karl: Zum Wesen der modernen Kunst: Streiflichter
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https://doi.org/10.11588/diglit.4871#0042
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ZUM WESEN DER MODERNEN KUNST

Kenntnissen unmodern, ein Thoma, ein Böcklin mit
ihren vielen, an die Naivitäten der Frühmeister er-
innernden zeichnerischen Unvollkommenheiten, all dem
Unmodischen ihres äußeren Gebahrens doch die voll-
kommensten Manifestationen des Geistes der modernen
Kunst? Doch gewiß nicht, weil das Zeichnenkönnen
veraltet ist. Sondern weil die einen uns die hohle
Schale, die anderen den Kern der Natur geben.
Weil komponieren und posieren nicht dasselbe ist.
Weil die Schönheit der künstlerischen Form für uns
nicht in der ausgefahrenen Eleganz und platten Kor-
rektheit, sondern in der charakteristischen Ausdrucks-
kraft der Linie liegt. Lieber eckig als allzu glatt.
So hat uns ein verwandter Zug unseres modernen
Empfindens auf geradem Weg zu den herben Früh-
zeiten alter Kunst zurückgeführt, bis zu einem oft
etwas manirierten Kultus der Primitiven«. Dort
ringt noch die ungebrochene Frische des lebendigen
Gestaltungstriebes mit dem Stoff, und läßt ihn in
keine toten, ausgefahrenen Geleise kommen. So ist
die lapidare Einfachheit und zyklopische Massigkeit
der wie von Titanenhänden aus dem Fels aufgetürmten
Tempelmauern und Götterkolosse des alten Ägyptens,
die wuchtige Breite und fleischige
Fülle romanischer Bauformen, die
architektonische Strenge frühmittel-
alterlicher Kirchenplastik unserem
modernen Monumentalstil in Bild-
hauerei und Baukunst zu einem
kräftigenden Quell der Verjüngung
geworden. Die Herbheit des Mo-
dernen sympathisiert mit der Herb-
heit des Archaischen, während ge-
rade die offiziellen Blütezeiten«
der zünftigen Kunstgeschichte mit
ihrem ausgelebten Formalismus
durch ein Nachlassen der eigentlich
schöpferischen Energie schon die
Zeichen des beginnenden Zerfalls
verraten. Man denke nur an die
Hochgotik im Vergleich zur Früh-
gotik, an die römische Hochrenais-
sance im Vergleich zur toskanischen
Frührenaissance u. s. w.

Im Kunstgewerbe hat dieselbe
Reaktion gegen das Überentwickelte
zu den Anfangsstadien des alten
Kunsthandwerks zurückgeführt.
Dort fließen noch die lauteren Quel-
len einer gesunden Stilempfindung,
wo noch die menschliche Hand dem
Stoff den persönlichen Stempel ihrer
Arbeitaufdrückte und keine überreife
Technik den Erdgeschmack des Ma-
terials zersetzte, keine glättende Feile
den Reiz des Hammerschlags im
Eisen, die Spur des Schnitzmessers
im Holz verwischte, keine Walze und
Stanze, Form und Presse die freie,
vom Geist regierte Menschenarbeit
in ihre mechanischen Geleise zog.

Und in der Malerei: Wie viel verdanken auch
die Größten unter unseren Großen den Anregungen
der alten Meister. Es ist unmöglich, so oft der Ver-
such auch gemacht worden ist, aus dem Lebenswerk
eines Böcklin die Einflüsse italienischer und fland-
rischer Kunst schlechtweg zu streichen. Selbst Manet,
der von den Verfechtern der angeblich voraus-
setzungslosesten Kunst, des modernen Pleinairismus
und Impressionismus als ihr Haupt und geistiger
Vater in Anspruch genommen wird, ist ohne die
alten Spanier undenkbar. Die Werke aus der ersten
Hälfte seiner Schaffenszeit — und seine besten ge-
hören unter diese — sind so vollständig auf den
malerischen Prinzipien des Velasquez aufgebaut, daß
er in manchen unter ihnen, wie z. B. der Musikanten-
bande bei Duran-Ruel, geradezu wie ein Werkstatt-
schüler des großen Spaniers auftritt.

Genug dieser Beispiele. Das Charakteristische
der modernen Kunst liegt nicht in einer blinden Ver-
achtung der Tradition, und beide hatten Unrecht:
die, welche ihr daraus einen Vorwurf machten und
in grollendem oder spöttischem Widerspruch aus der
angeblichen Pietätlosigkeit gegen die Alten ein kläg-

ANRICHTE ZUM SPEISEZIMMER (ABB. S. 31), ENTWURF: ARCHITEKT
E. SCHAUDT, AUSFÜHRUNG: LION KIESSLINQ

Kunstgewerbeblatt.

N. F. XV. H. 2
 
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