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Der Kunstmarkt: Halbmonatsschrift für den gesamten Kunsthandel — 1.1925

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Lorenz, Hans: Erinnerung an den Jugendstil
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https://doi.org/10.11588/diglit.48678#0012
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DER KUNST MARKT

ERINNERUNG AN DEN JUGENDSTIL.
Von DR. HANS LORENZ.

Noch heute pflegt der Begriff „Jugendstil" nur aufgegriffen zu werden, um damit dankbare Witze zu
machen; wer sich ernsthaft bemüht, ihn zu deuten und womöglich Verdienste und Leistungen dieser nämlich
ganz achtungswerten Bewegung hervorzuheben, läuft Gefahr, sich lächerlich zu machen. Niemand erinnert sich
gern; und mancher heuchelt Unbefangenheit, bei dem zu Hause irgendwo ein Schrank mit dem bewußten Schnör-
kel oder eine Figur mit schwungvoll rieselnden Gewändern steht. Man hat sich daran gewöhnt, alles, was
einen linearen Schwung besitzt und kitschig ist, mit Jugendstil zu bezeichnen. Das ist ungerecht und hat
seinen Grund darin, daß die Betriebsamkeit der Epoche, die heute noch dieselbe ist, der Bewegung den Schnör-
kel absah und ihn bis zur Sinnlosigkeit und Plattheit ausnutzte.

Zur gleichen Zeit, als sich in der bildenden Kunst jene neue Richtung entwickelte, geschah die Geburt des
modernen Kunstgewerbes. Beide haben ihr Teil am Jugendstil getan und die neuen Formen sprießen machen,
in der Darstellung und im Ornament. Begeisternde Anregungen empfingen sie vom modernen Bühnentanz. Loie
Fuller wurde mehr als eine flüchtige Sensation. Den Namen erhielt die Bewegung von der Münchener Zeitschrift
„Jugend", in der die jungen Kräfte sich zeigen konnten, und durch die sie populär wurden.

liehen Gemeinschaft mit
Gesetzen, Formen und
Zielen, nach einem inner-
lich fundierten System der
Beziehungen. Aeußerlich
ist festzustellen: es bil-
deten sich Schulgemein-
den, Siedlungen, Jugend-
bünde. Das bedeutendste
Symptom: der Sozialis-
mus, der schon längst eine
klassenbewußte Weltan-
schauung geworden war,
breitete sich aus. Stil-
versuche und Gemeinsam-
keitsstreben sind Auswir-
kungen ein und derselben
Kraft, die in der Epoche
wirksam wurde. Der Ju-
gendstil wollte eine idea-
listische Kunst schaffen
und vielleicht durch sie die
Entstehung der neuen Ge-
sellschaft beschleunigen.
Er bemächtigte sich aller
Dinge: der Malerei, der
Skulptur, des Handwerks,
der Reklame, Jede Fach-
zeitschrift zeigte ihn in
ihren Mustern. Aber er
wurzelte in der Haupt-
sache im Intellekt und
in den guten Vorsätzen.
Der
Bezeichnenderweise gab es keine Architektur des

Die geistigen Hinter-
gründe, aus denen der
Jugendstil erwuchs, sind
im Kern der heutigen er-
halten geblieben. Am Mo-
ment der Kollektivität,
der einheitlichen Stoßkraft
einer Zeit gemessen, gab
es keine Gesellschaft mehr,
sondern nur noch eine
Häufung von Individuen.
Gehetzt von der Zivilisa-
tion, ohne überpersönliches
Medium, da der Mechanis-
mus und die Betriebsam-
keit alle Inhalte durch-
einander brachte und des-
illusionierte, floh jeder in
seine heimliche Eigenart.
Der Impressionismus för-
derte diesen Kult des In-
dividuums und gab die
diskreten Reize, die jeder
auf sich allein wirken ließ,
und zu deren Genuß er
keiner Gemeinschaft be-
durfte. Dagegen machte
sich eine Bewegung gel-
tend. Der Vereinsamten
bemächtigte sich die Sehn-
sucht nach neuen und ge-
meingültigen Inhalten, nach
einer neuen gesellschaft-
Die Ausdrucksmöglichkeiten blieben beschränkt; die Handgelenke waren geschmeidiger als die Herzen.
Vorstoß nach einem breit fundierten Stil mußte scheitern.


Jugendstils!

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