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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI Heft:
Heft 8 (2. Januarheft 1900)
DOI Artikel:
Göhler, Georg: Die neuesten grossen Chorwerke, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0314
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Schranken von Liturgie und Kultus duldeten, sondern einfach Kunstwerke
sein wollten. Jetzt soll nun im Kirchen-Oratorimn ein Mittelding ent-
stehen. Aber mit solcher Halbheit ist niemand gedient. Entweder Gottes-
dienst oder Konzert! Solche „erbauliche" Kompromißwerke beweisen stets
Mangel an Krast, in der Kirche wie in der Kunst I Und die Kunst wird
sich immer rächen, wenn man sie in ihren höchsten Aeußerungssormen
zu menschlich-gesellschastlichen Zwecken — und seien es die höchsten! —
mißbrauchen will. Die Kunstgeschichte kann daher Werke wie „Die Ge-
burt Christi" und „Passion" nicht als Zwischenstusen aus der Höhenlinie
der Entwicklung des Oratoriums brauchen, sondern muß sie bedeutend
niedriger einschätzen. Jn seinem musikalischen Vermögen erweist sich
Herzogenberg in diesen Werken als einer der Vielen, die wohl über
genügende eigene Krast für kleine Formen und ein gewisses Quantum
von Hauspoesie versügen, denen aber gegenüber großen Aufgaben das
kleine Kaliber ihrer Kunstrichtung, die genaue Kenntnis ihrer Muster und
ihre technische Fertigkeit manchen Streich spielt. Es ist mit einem Worte
zu viel Hochschularbeit. Das merkt man vor allen Dingen bei der
„Geburt Christi", in der die vielen alten Weisen, deren ursprüngliche
Lebenssülle auch durch das neue, verbrämte Gewand sich nicht verhüllen
läßt, mit ihrer melodischen und harmonischen Gewalt alles überstrahlen,
was Herzogenberg an Eigenem zu geben vermag. Es ist eine alte
Weisheit, daß keiner die sesten und leuchtenden Fäden, die uns aus den
Werkstätten srüherer Jahrhunderte erhalten sind, auf seinen Webstuhl
spannen soll, wenn sein eigenes Gespinnst daneben fahl und morsch aussieht.

Eine ganz andere Bedeutung hat Herzogenbergs neuestes Werk,
die „E r n t e s e i e r". Jch trage kein Bedenken, dem Werke kunst-
geschichtliche Bedeutung zuzuschreiben. Das ist das Verdienst Friedrich
Spittas, der für das Werk einen Text zusammengestellt hat, der
meisterhast genannt zu werden verdient und in der gesamten Oratorien-
Literatur kaum seinesgleichen hat. Das ist ein wirklich moderner Text,
der eine ausgezeichnete Grundidee und eine vorzügliche poetische Krast
der Sprache hat, keine Historie, mit Theateraufputz oder erbaulichen An-
merkungen, sondern eine große Kantate, die reiche Gedanken gibt und
Lebensweisheit predigt. Dazu werden Fragen erörtert, die im Mittel-
punkt der Zeitinteressen stehen; Alles steigert sich wirkungsvoll und dehnt
sich von der beginnenden Erntefeier schließlich zu einem großen Bilde
des Lebens aus, an dessen Ende der Tod seine große Ernte hält und
aus der Not des Lebens hinaussührt in die reichen Gefilde der Ewig-
reit. Die organische Entwicklung läßt die einzelnen Stücke nicht auf,
sondern aus einander folgen. Möge der Text vorbildlich werden sür diese
Art Chorwerke; setzt hat er schon das Gute gebracht, daß er auch den
Komponisten ohne weiteres mit aus eine bedeutend höhere Stuse hob.
Das hat thatsüchlich der vorzügliche Text veranlaßt, der allerdings auch
der Veranlagung Herzogenbergs weit mehr entgegenkommt als etwa „Die
Passion", deren weltgeschichtliche Bedeutung auch beim Tondichter Größe
verlangt. Erreicht hat die Musik die Höhe des Textes zwar nicht, aber
sie ist so, daß eine weite Verbreitung des Werkes auch in dieser musi-
kalischen Fassung lebhaft zu wünschen ist. Jch nehme dabei an, daß
ein Chor wie der Erntechor im ersten Teil insolge seiner hervorragend
glücklichen Schilderung der Fröhlichkeit des Landvolkes bald ein
Unnstwart

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