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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,2.1901

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Heft 19 (1. Juliheft 1901)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7962#0314
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das sich nach dem Streik wieder zum
Frohndienst beugen mutz, Josine ge-
genüberzustellen, die sich, noch jung
und elastisch, als befreites Elend, ihrer
Menschenwürde bewußt, erheben darf.
Jn dieser Symbolik ist noch etwas
von der einstigen Kraft Zolas zu
spüren. Weitere Vergleiche mit „Ger-
minal* hält „Arbeit" nicht aus. Nichts
mehr von jenen kühnen, durch sein
Temperament gesteigerten Schilde-
rungen trostloser Wirklichkeit; nichts
von jener dichtenden Leidenschaft, mit
der er grotze Massen wie in einheit-
liche gewaltige Organismen umschuf.
Man denke an die Streikbewegung im
„Gcrminal", mit dem Gewitterhimmel
darüber, oder an den Pilgerzug in
„Lourdes".

Wenn wir uns die letzten propheti-
schen Worte des „Germinal" zurück-
rufen, die in dieser grausigen Nacht
blitzartig einen Strahl edler Hoffnung
aufleuchten lassen, so legen wir das
neue Werk mit bitterer Enttäuschung
aus der Hand: ein poesielos er-
zähltes Mürchen, das doch kein Mär-
chen ist, eine Geschichte, bei der die
Menschen in die Tugend hineinschema-
tisiert werden, wcniger wahr und
weniger dichterisch, als sie der einstige
Pessimist in das ererbte Laster hinein-
schematisiert hat. A. Br.

* „Leonore und anderes." Von
Johannes Schlaf. (Berlin, Fon-
tane.)

Das Buch enthält eine Sammlung
von Skizzen. Jn den kleineren Sachen
tritt oft eine schlichte Jnnigkeit des
Empfindens und ein guter Humor zu
Tag, wie sie diejenigen, die in Schlaf
ohne weiteres den „schrecklichen" Schil-
derer moderner Abstrusitäten verab-
scheuen, sehr in Erstaunen setzen
würden. ReineDarstellung gibt
Schlaf allerdings selten; sie ist bei ihm
meist mit Schilderungen untermischt,
die das Charakteristische in allgemeincn
Betrachtungcn als Fazit ziehen, statt es
in konkret gegebenen Einzelzügen zu
Aunstwart

verdichten; ebenso geht ihm bei der
Wiedergabe von Naturbildern das Ge-
stalten unwillkürlicher Eindrücke öfter
in das minutiöse Aufzeichnen von Be-
obachtungen über; ein solches Be-
schreiben aber kann bei aller liebevoll
aufgewandten Kleinmalerei dichte-
rische Wirkungen ja nie erzielen.

Weniger sympathisch ist mir Schlaf
in der grötzeren, in der stärker erregten
Erzählung „Leonore", wenn ich auch
dort trotz allem Nervenspiel Gefühls-
innigkeit als den Grundzug seines
poetischen Schaffens durchzuspüren
meine: es werden da nämlich viel
weniger die geistig-seelischen Zustände
als die Nervenreaktionen geschildert,
die ein Lebensschiffbrüchiger durchzu-
machen hat, der zur langvcrlassenen
Gattin liebebedürftig zurückkehrt. Nun
scheint Schlaf allerdings gerade in
dieser Art seiner Schilderung das Neue
und Eigenartige seiner Persönlichkeit
zu sehn, und man kann ihm darin
wohl auch zum Teil recht geben; nur
ist dies Neue an ihm keinenfalls im
Stand, etwas in höhereni Sinn Be-
deutendes zu geben; denn das Nerven-
gezitter seiner Helden kann doch von
üb erragender Lebenswichtigkeit
nur für den klein gewordenen Menschen,
nur für dcn modernen Menschen sein,
dessen Willenssystem schon autzer Rand
und Band geraten ist, dem die Nerven
über die Seelenkrast gewachsen sind.
Auch tritt bei solchen Schilderungen
der Dichter in Schlaf viel seltener
hervor als sonst. So viel einzelne
Stimmungsmomentc seiner Helden er
da anführt, so sclten hcbt cr schöpferisch
die wirklich wescntlichen, die übersicht-
lich beleuchtenden Punkte bei seinen
detaillierten Beobachtungen hervor:
es bleibt im Grund pathologisch
interessante Miniaturmosaik. Je weiter
weg dagcgen v'on diesem Kleinkram,
desto sreier crhebt der Dichter und
sinnende Mensch Schlaf scin Haupt,
wcnn er sich auch kaum zu einer das
Leben in seinen wesentlichcn Zügen
 
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