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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1902)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0143
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aber, der sich ängstlich von der Be-
rührung mit verwandten, schaffenden
Geistern fern hält und sich vom frischen
Strome des fruchtbaren Lebens ab-
schlisßt, der geht einen Jrrweg, und
die Einsamkeit, die er für seine Stärke
hält, wird sein Fluch und sein Ver-
derb. Lechter hat sich ganz in die
Vergangenheit eingesponnen, hat sich
mit gotischen Möbeln umgeben unü
sich eine lebensfremde Schemenwelt
geschaffen. Darum sagen uns seine
Ersindungen nichts; seine Jdealge-
stalten helfen uns nicht dazu, unsere
eigenen Jdeale zu klären und fortzu-
bilden; seine Weihe gibt uns nicht die
Kraft, unser eigenes Lcben zu weihen
und zu verschönern; seine Feierlichkeit
bleibt uns sremd, gemacht, äußerlich —
ein Haubenstock, mit prächtigen Ge-
wändern behängt. Trete ich von der
Betrachtung eines Bildes von Böcklin
auf die Straße, so sehe ich Natur,
Kultur und Menschen im Lichte Böck-
lins; ich sehe die höheren Formen, zu
üenen sie sich entwickeln können, die
Mängel, an denen sie leiden, die srucht-
baren Keime, die sie in sich tragen,
und ich sehe, daß der Meister eben
für diese Menschen und ihre schönere
Zukunft schuf. Zndem ich von Lechters
Bild auf die Straße hinaustrat, hatte
ich nur die funkelnde Halle und üie
reichen Gewändsr vor Augen, und ich
empsand, üaß dieser lebensfremde
Maler in seinem Werke seinen Mit-
menschen nichts zu bieten hatte.

Albert Dresdner.

^Ueber das Restaurieren hat
John Ruskin in den „Sieben Leuchten"
ein paar Sützs gesagt, die wir üoch
auch einmal anhören sollten. Wir
drucken sie in der Schölermannschen
Verdeutschung nach der bei Diederichs
erschiensnen Ausgabe ab.

„Weder vom Publikum noch von
denen, dsren Obhut die öffentlichen
Baudenkmäler anvsrtraut sind, wirü
dis wahre Bsdeutung des Wortes
Wiederherstsllung (Restaurierung) ver-

standen. Heute bedeutet sie die voll-
ständigste Zerstörung: eine Zerstörung,
aus der keine Bruchstücke gerettet wer-
den können, von einer falschen Vor-
stellung des Zerstörten Werkes begleitet;
falsch auch in einer parodistischen Weise,
die verabscheuenswerteste aller Falsch-
heiten. Täuschen wir uns üoch nicht
in diesem wichtigen Punkt: es ist ganz
unmöglich, so unmöglich wie üie Toten
zu erwecken, irgend etwas wieder her-
zustellen, das jemals groß oder schön
in der Vaukunst gewesen ist . . . Ein
anderer Geist mag durch eine andere
Zeit gegeben werden, und dann ist es
ein neues Gebäude; aber der Geist
des toten Handwerkers kann nicht zu-
rückgerufen werden, um andere Hände
und andere Gedanken zu bewegsn!
Was das direkte und einfache Kopieren
anbelangt, so ist das eine handgreist
liche Unmöglichkeit. Wie kann man
Oberflächsn kopieren (oder ersetzen),
die einen halben Zoll tief abgewittert
und abgebröckelt sind? Die ganze
Vollendung der Arbeit lag in dieser
halbzolldicken Schicht, die verloren ge-
gangen ist; eine mutmaßliche Her-
stellung hat gar keinen Wert; wenn
man das übrig Gebliebene kopiert
(welche Sorgfalt, Vorsicht und Kosten
leisten dafür Bürgschaft?), wie kann
die neue Arbeit besser sein als die alte!
Jn der alten war doch noch etwas
Leben, eine geheimnisvolle Andeutung,
was sie war und was von ihr ver-
loren gegangen; etwas Liebliches und
Liebenswertes in den feinen, vom
Regen und Sonnenschein verwitterten
Linien. Jn der brutalen Härts der
srischen Bsbauung kann kein Leben sein.

Der allererste Schritt zur Wieder-
herstellung (ich hab's gesehen, wieder
und wieder, sah's beim Baptisterium
zu Pisa, bei der Casa d'Oro in Venedig,
an der Kathedrale von Lisieux) bedeutet
das Entzweischlagen der alten Arbeit,
der zweite die billigste und banalste
Nachahmung, die eben durchschlüpsen
könnte, auf jeden Fall, wsnn auch noch

2. Gktobsrheft §902

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