Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1902)
DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0142

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
dentend werde. Auch Böcklin hat ein-
mal einen Brunnen in den Mittelpunkt
eines Gemälües gestellt; man denke
seines Bildes „Malerei und Dichtung".
Da steigt in leuchtender Sommerland-
schaft der silberne Strahl aus köstlicher
Schale hoch empor, und zwei adlige
Frauen schöpsen von ihm. Durch die
Schönheit, durch das sonnige, edle
Leben, üas ihn umgiebt, gewinnt da
der Quell seine Bedeutung. Zch be-
greise, daß hier das lebenspendende
Element aus den geheimnisvollen
Tiefen der Erde zu Tage tritt und sich
willig reinerer Form sügt; daß sich
Natur und Kultur hier vermählen und
daß darum hier die Stätte der Künste
ist. Böcklin hat seincm Symbol da-
durch die Verständlichkeit und Klarheit
gesichert, daß er es rings mit deutenden
Beziehungen aus dem Reiche des Sicht-
baren umstellte.

Bei Lechter sprudelt der Quell unter
goldener Halle. Und er selbst tritt
ganz in den Hintergrund, der Vlick
richiet sich immer wieder auf die über-
mächtige, gleißende Architektur; die
Hülle ist wichtiger als der Jnhalt, üer,
Schrein mehr als das Götterbild. Erst
wenn man die Darreichung des Trankes
betrachtet, denkt man allenfalls an den
bewußten Quell und sucht ihn. Es
fehlt hierbei, möchte ich sagen, das
Verstänünis sür geistige Proportionen.
Und das fehlt ebenso in der Behandlung
der Figuren. Sie sind alle seierlich
und alle gleich seierlich, und eben diese
Allgemeinheit und Gleichheit hebt den
beabsichtigten Eindruck auf. Wie sein
hat Böcklin seine beiden Gestalten
gegeneinander kontrastiert I Hier ist
keine Kontrastierung, dis Gestalten sind
sehr wenig individualisiert, Feierlich-
keit scheint ihr Lebensberus. Aber mehr
als Feierlichkeit wäre lebendiger Anteil
an dem Vorgange. Den kann ich aus
all' üiesen Gesichtern nur in bescheidenem
Maße finden. Kaum ist ein Zug
srischen Lebens in dieses Bild überge-
gangen. Die Bewegungen sind über-

einkömmlich, die Gesichter der jungen
Mädchen tragen schon auf den Studien
einen alten Zug, und die Natur selbst
stellt sich in der Art eines mit Blumen
in peinlich regelmäßigen Abständen be-
setzten holländischen Tulpengartens dar.
So ist das Symbol, der geistige
Mittelpunkt des Bildes nicht durch
menschliche Beziehungen gedeutet; es
verharrt sür uns in nebelhaster inter-
esseloser Verschwommenheit.

Lechter hat sich ties in üen Geist der
Primitiven der Nenaissance hineinver-
setzt, von denen er interessante Kopien
angefertigt hat. Wenn er ihren schlichten
srommen Geist wirklich erneuerte und
in neuen Wahrheiten und Gestalten
lebendig machte, so wollten wir's ihm
danken. Aber das thut er nicht — er
ahmt sie nur nach. Ahmt sie selbst
in Kleinigkeiten und Fehlern nach, wie
den gespreizten Fingern und. den
knitterigen Falten. Aber die Bilder
jener Frühsienesen und Frühslorentiner
hatten eine große und überzeugende
Wirklichkeit: für sie war das Jesuskind
aus dem Schoßs der Madonna wahr
und wahrhaftig ein lebendiges Ding,
an üas sie glaubten, zu dem sie bete-
ten und hofften; und ihre Bilder waren
rührende Opfer an den, von dem sie
Erlösung hofften. Wer an die Stelle
der Gottesmutter mit dem Jesusknaben
einen „mystischen Quell" unterschiebt,
der uns nichts ist noch bedeutet, üer
muß unwahr werden, denn er spricht
in den Formen vergangener Tage von
Dingen, die nichts Lebendiges sind.

Nichts Lebendiges — das ist, eins
in allem, das Signum der Kunst Mel-
chior Lechters. So oft ein Werk von
ihm erscheint, höre ich ihn gepriesen,
wcil er „einsam" schaffe. Jch ehre
den Künstler, der sich von üer gemeinen
Mode sern hält, der auf die Stimme
in seiner Brust lauscht, der still dar-
nach strebt, Lie ihm eingeschaffene
Göttlichkeit in Gestalten auszuprägen;
ich ehre ihn und ich hoffe mit ganzer
Seele auf solche Künstler. Der Künstler

92

Aunstwart
 
Annotationen