Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Die Neue Richtung
DOI Artikel:
Batka, Richard: Das Deutsche Kunstlied, [2]: Johann Sebastian Bach
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0175

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
der sich an Fülle und Größe mit Keller doch gar nicht rnessen konnte!
Oder konnt' er's mit Hebbel? Und hat man über den etwa jemals
einen Zeitungssumms gemacht, wie über die Ausländer? — Was
wir dem deutschen Drama wünschen, ist nicht nur das Gnadengeschenk
eines Genies, es ist sür die Talente unter den Schassenden wie sür
die Geweckten unter den Genießenden zunächst einmal das Wieder-
anknüpfen der Tradition. Erst wenn außer Sharespere, Goethe
und Schiller die Kleist, Grillparzer, Ludwig, Hebbel, Anzengruber das
tägliche Brot auf unsere Bühnen reichen, erst dann wird sich eine Zu-
schauerschaft bilden, die den Wegen etwaiger wirklicher Weiterent-
wickler des deutschen Dramas zu solgen vermag. Jetzt steht das Neue
in der Lust; wie soll's da Nahrung aus dem Boden hinbekommen, und
anderseits: wen kann's wundern, wenn's beim Entweichen des Gases
herunterfällt, mit dem man's ausgeblasen hat? A.

l)A8 äsut8cde K^nstlisä.

2. Iohann Sebastian Bach.

Wenn man srüher von Vach als Liederkomponisten sprach, so
hatte man gewöhnlich das „Willst du dein Herz mir schenken" im
Sinne, das unter seinem Namen in vielen Liedersammlungen stand.
Seitdem aber Spitta bedenkenswerte Zweisel erhoben, ob diese „Arie"
wirklich von dem großen Thomaskantor herrühre, hat man sich abge-
wöhnt, ihn damit in Verbindung zu bringen. Hingegen ist in jüngster
Zeit eine Anzahl geistlicherLieder Bachs weiteren Kreisen zugünglich
gemacht worden, die mehr sind, als bloße Kuriositäten, die eine wohl-
berechtigte Anwartschast haben, als Hausmusik geradezu noch Volks-
tümlichkeit zu erlangen.

Die vor Jahressrist begründete „Neue Bachgesellschaft" hat diese
sür ein s736 von dem Kantor Georg Christian Schemelli herausge-
gebenes Gesangbuch komponierten Lieder als erste ihrer jährlichen Ver-
ösfentlichungen erscheinen lassen und ihren Mitgliedern vorgelegt.* Die
von Bach bloß durch Bezifferung des Basses angedeutete Harmonie ist
von Ernst Naumann, einem unserer gediegensten Bachkenner, musterhast
ausgesetzt worden, und so steht denn nichts im Wege, daß dieses Heft
ein liebes Erbauungsbuch zumal sür protestantische Familien werde.

Bachs Liedkunst erwächst aus dem Choral, ja viele dieser seiner
Lieder sind vom Choral der Form nach nur dadurch unterschieden, daß
ihre Oberstimme statt von der ganzen Gemeinde von einem Einzelnen
gesungen wird. Dazwischen begegnen uns schon ganz liedartige Gebilde,
und einige, wie das in der diesmaligen Notenbeilage enthaltene wunder-
volle „Gedenke doch mein Geist zurücke" zeigen ein geradezu modernes,
sreies, aus dem Tonfall der ausdrucksvoll deklamierten Sprache er-
blühendes Melos, so daß wir alle Stufen des Liedertypus, die sich im
Verlause der geschichtlichen Entwickelung zur Geltung gebracht haben
mit alleiniger Ausnahme des sogenannten dreiteiligen Liedes bei Bach

* Nichtmitglieder können sie überdies als 6. Hest der neuen Bachausgabe
„sür den praktischen Gebrauch" vom Verlage Breitkopf L Härtel in Leipzig
bekommen.

Ut

Novemberbeft ^902
 
Annotationen