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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1902)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Vor Weihnachten
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0383

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Es ist doch eine schöne Zeit, vor Weihnachten. Die meisten von
uns haben zu arbeiten, daß die Haare dampsen — aber das stört ja
nicht ernstlich, denn wie vielen geht's ebenso! Auf den Straßen welches
Treiben, und doch nur als Abschein von all dem Hämmern und Sägen,
Nähen und Sticken, Schreiben und Rechnen hinter Fenstern und Türen!
Das Gemeinschastsgefühl, das noch etwas andres ist, als Herdengefühl, das
Frohgefühl gemeinsamer Arbeit sür gute Ziele webt zwischen all dem
Schnee und nassem Nebel über die Gassen. Recht viel dieser Arbeit
iinmerhin geschieht ja sür andere. Eins stört: wenn sich der Geschästs-
sinn in die Nächstenliebe verguckt, hat man die Besorgnis, das könnte
statt zur Ehe zur Vergewaltigung sühren. Es sührt auch dazu: wer
über die Anzeigenseiten der Blütter und auf die Plakatsäulen mit etwas
empfindlichem Auge blickt, dem wird bei all dem festlich Gesühlvollen
da ungesühr, als grisse eine herzlich ausgestreckte Hand nach seiner Taschen-
uhr, und hinter den stimmungsvollen „Weihnachtswanderungen" durch
die Geschüfte im Tageblatte und hinter den Empsehlungen „für den Weih-
nachtstisch" vom Büchermarkt erkennt er zwischen den gedruckten Buch-
staben als cigentlich angebetete Schriften Waschzettel und „Annoncen-
ordres". Aber trotz allem: es ist doch eine schöne Zeit.

Sie wäre das ja schon deshalb, weil sie dem, der nicht gerade
reich ist, mehr als irgend eine andere Gelegenheit gibt, um sich herum
zu ergänzen, zu ersetzen, zu erneuern und zu verbessern. Hausrat, Klei-
dung, Bilder-, Noten-, Bücherschatz veründern ja bei uns Menschen
des Mittelstandes ihr Gepräge seit der Eheschließung am meisten in
dieser Zeit, denn die paar Geschenktage sonst im Jahre gelten ja
immer nur je Einem, Weihnachten aber gilt Allen. Da bildet sich
bei seinen Menschen aus gutem Boden auch eine seine Kunst des Schenkens
aus. Jch habe zwei alte Damen gekannt, von denen schenkte die eine
der andern zum Geburtstag ein Goldstück, die andere aber hob's ein-
gewickelt auf und schenkt' es der einen zu deren Geburtstag wieder,
und so weiter ohne Anmut, daß das goldene Opser ein halbes Jahr da,
ein halbes dort im Kasten schlief. Welch ein Weg von hier bis zu dem

Dezemberheft 1,902
 
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