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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1902)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0488

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An den habe ich auch geglaubt. Sei aber still, er ist ja tot! Das
sind wir bei der silbernen Hochzeit. Damals weinte meine gute Frau
so. Sie mochte nicht gern alt werden, aber, Kind, was hilft das?
Man muß gehorchen, gehorchen! Das Leben ist eine Strapaze, du
kennst es noch nicht. Das Bild hier habe ich machen lassen, als die
Kinder meinen sechzigsten Geburtstag feiern wollten. Das war ein
schöner Tag, ich war über die innere Unruhe hinweg und hatte mich
in mich selber hineingefunden. Jeder Mensch braucht Zeit, ehe er
sür sich selber dankbar wird. Bei mir hat es lange gedauert, sehr
lange. Jch wollte immer aus mir heraus, weil ich dachte, es ver-
lohne sich nicht, mich zu modellieren. Jch selber hätte es auch nicht
sertig gebracht, Gott hat es getan. Er hat mich geknetet, gedrückt,
geschnitten, bis ich Gestalt bekam. Das war keine leichte Arbeit,
schließlich aber ist doch noch etwas dabei herausgekommen. Wie sagte
doch Chrysostomus, ehe er starb? Lob sei Gott für alle Dinge!

Großvater, hast du immer an Gott geglaubt? Nein, mein Kind.
Jch konnte den Predigten nichts abgewinnen. Was halfen mir die
schönen Reden, solange ich mir vorkam wie ein Stein auf der Straße?
Erst als ich merkte, daß mein Jch vorwärts geführt wurde, fing
ich an, an den großen Künstler zu glauben. Auch heute glaube ich
noch nicht alles, was man euch lehrt, aber ich glaube an den Geist,
der mehr von mir wußte als ich selber. Er hat mich nicht wegge-
worfen, als ich mich selber für einen Tonklumpen hielt. Er sah im
Ton das Kunstwerk, das aus ihm werden sollte. Es ist ein beschei-
denes Kunstwerk geworden, eines unter den vielen, aber immerhin,
er hat etwas aus mir zu machen gewußt, nicht ich. Darum bin ich
jetzt so dankbar. Es ist mir, als stände er vor mir und sähe mich
noch einmal prüfend an und spräche: Es hat sich doch gelohnt! Das
ist es, was mir wohltut. Jetzt soll er getrost noch ein wenig nach-
bessern, bis ich für seine große Galerie fertig bin — irgendwo in
einer Ecke. Lob sei Gott für alles!


Läleradui'.

O HieronymusLorm, rvie sich
Heinrich Landesmann als Schriftsteller
nannte, ist zu Brünn gestorben. Fast
seit der Kindheit taub und blind, hat
er's zu einundachtzig Lebensjahren ge-
bracht, die geistigen Gehaltes voll
waren! Es wird in der Literaturge-
schichte eine merkwürdige Erinnerung
bleiben, daß dieser Mann, dem seine
Angehörigen „die Welt" durch eine
Art Tastsprache vermitteln mußten,
doch über eine große Reihe ihrer Er-
scheinungen klug zu schreiben wußte,
ohne daß der Leser den besonderen
Zustand dessen, der zu ihm sprach,

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bemerkte. Seine Weltanschauung natür-
lich mußte die Verallgemeinerung der
eigenen Erfahrungen sein, und so ift
Lorm als Lyriker ein Dichter des Pes-
simismus geworden. Seine Phantasie,
sicherlich stark, wenn sie unter solchen
Bedingungen für Gesunde auch nur
Annehmbares schafsen konnte, ward
selbstoerständlich zu wenig gespeist, um
viel gestalten zu können. So arbeitete
LormalsDichtervorallemrnitdenStiM'
mungswertenvon Gedanken. Trotz aller
Klagen in dieser Poesie — auch hier
erweist sich als wahr, daß schließlich
eine Gewöhnung selbst an das dun-

Runstwart
 
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