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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

DOI Heft:
Heft 4 (2. Novemberheft 1902)
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Avenarius, Ferdinand: Literarischer Ratgeber des Kunsthandwerks für 1903, [9]: Philosophie und Psychologie
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0344

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Pbilolopbie unä ps)?ckologie

Die Entwicklung des menscklichen Geistes spiegelt sich am schärfsten in der Ge-
schichte der Philosophie. Unsere Art, unser eigenes Wesen in der Mannigsaltigkeit
seiner Aeußerungen nnd in seiner Abhängigkeit von der Umwelt, sowie das Wesen
diefer Umwelt selbst zu begreifen, ist bekanntlich weder unumstößlicy noch ohne innigen
Zusammenhang mit der Auffassungsweise unserer Vorfahren bis in das graueste Alter-
tum hinein. All die vorher von uns aufgezählten Wlssensgebiete, wie mannigfaltig
sie seien in ihrer scheinbaren Selbständigkeit und in der Sicherheit, mit der sie uns
in so und so viele scheinbar zusammenhanglose und ungleichartige, gestaltenreiche Welten
einführen, sie haben tatsächlich und prinzipiell für alle Zeit die gemeinsame Wurzel in
ein und derselden logischen Funktion des menschlichen Geistes. Das Bedürfnis, uns
selbst und die Welt und was sie im Jnnersten zusammenhält, zu erkennen und uns
zu ihr und ihrem Ilrgrunde in die vernunftgemäßeste Beziehung zu setzen, war zu allen
Zeiten gleich groß. Wenn in der Tat diese mlellektuelle und praklische Beziehung heute
eine andere ist als früher, so liegt der Grund nur in der gestiegenen Menge und Eigen-
art der Erfahrungen, die auch in ihrer Vereinzelung forgfältig berücksichtigt sein wollen
und so die Erfassung der Gesamtheit aus einem oder aus wenigen Gesichtspunklen
von universaler Tragweite erschweren. Wenngleich unsere heutige, den Einzelerfah-
rungen gewissenhaft Rechnung trageade Philosophie zu inhaltlich gleichen Gesichts-
punkten und Grundsätzen gelangt wie die Philosophie dieses oder jenes Zeilalters vor-
her, so hat sie docp ihren Eigenwert durch das Wie der Begrnnvung, des Beweises
ihrer Lehrsätze. Wer die Geschichle unserer geistigen Entwicklung verfolgt und dabei
entdeckt, daß so und so viel unserer neueren und neuesten Entdeckungen im Lande der
Naturgesetze und die verschiedenen Maximen der Lebensgeftaliung schon längst vorher
und teckweise sogar weil präziser vorgetragen wolden sind, der wird einräumen, daß
weniger das Was der Lehre als das Wie des Aufbaues rhren Lebenswert bestimmt.
Die geschehene und noch nicht abgeschlofsene Emanzipation der Einzelwissenschaften von
der Philosophie ist dec besle Beweis hlerfür.

Darum gilt sür uns: Entweder wir nehmen die mühsame Arbeit vieler
tüchtiger Männer zumal der letzten Jahrzehnte, unsere Erlebnisse und ihre besonderen
Ursachen im einzelnen zuverlässig zn charakterisieren, leicht und sagen: nut ein paar
Begrisfen, die einer unserer klassischen Denker so sreundlich war auszudenken, konslruieren
wir nns allezeit vermöge unseres göttlichen Menschenverstandes die schönste, bestgeordneie
Welt; — oder wir achten diese Arbeit, die uns überdies die Vorzüge unserer modernen
Knltur gebracht hat, hoch, erkennen Daseinsrecht und Jnhalt dec Einzelwissenschasten
an und dringen zu einer philosophischen, einheitlichen Erfassung der Gelamtwelt durch,
indem wir von dem gesicherten Einzelwissen die gemeinsamen Merkmale snchen und
für die unmittelbar vorhandenen Widersprüche eine Lösung geben durch Einführung
des höheren, hierzu beftgeeigneten ursächlichen Prinzips.

Die bisherige Gestaltnng unscres Ratgebers verrät, daß wir der zweitgenannten
Auffassung ergeben sind. Demgemäß empfehlen wir von philosophischer Literatur nnr
das, was wenigstens der Absicbt nach die Ueberzeugung von denr zeilgemäßen Charaknr
der Philosophie verwirklicht. Für die übrige philosophische Literarur, deren relativ
nicht minder hohen Wert wir weit entfernt find, schmälern zu wollen, haben wir hier
nicht genügend Raum. Wir empfehlen indes zur lüerarischen Befrledigung jedweder
philosopkischen Bedürfnisse vor allem Geschichte der Philosophie, und zwar: den
kleinen Schwegler, „Geschichte der Philosophie im Umriß", Windelbands „Ge-
schichte der Philosophie", Falckenbergs (mit einer Erläuterung der wichligsten philo-
sophischen Kunstansdrücke als besonderem Anhang ausgeftatlete) oder Höffdings
„Geschichte der neueren Philosophie" und F. A. Langes „Gesctstchte des Maierialis-
mus". Wer die Persönlichkeiten der Philosophen konkreter vor Augen haben will, als
sie ein einigermaßen einheitliches Geschichtswerk darzustellen vermag, der lese Euckens
„Lebensanschaunngen der großen Denker". Sollte die Lektüre Schwierigkeiten machen,
so empfiehlt fich znvor, die leicht lesbare „Einleitnng in die Philosophie" von Jerusalem
oder die von Külpe oder von Paulsen durchzunehmen, vielleicht mt auch gule
Dienste ein Nachschlagen in Eislers „Wörterbuch dec philosophischen Begriffe". Wer
weiter eindringen will in den Werdegang des philosophischen Denkens oder in die
Besondcrheüeil der Denkweise der einzelnen Philosophen, wrrd in jenen Werken über-
genug Hinweise auf die Quellen und ihre Titel vorfinden. Wer mit der Durcharbeitung
der Geschichle der Philosophie schon fertig ist und doch der Orientiernng für den Buch-

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Uunstrvart
 
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