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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 7 (1. Januarheft 1903)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0543

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L'llrrÄru»-.

K Ricarda Huch erzählt in
ihrem neuen Nomane ,,Vila somuium
l>revö" (Leipzig, Jnselrierlag, 2 Bde.
7 Mk.). wie Michael Unger, ein Mensch
von mittleren Gaben und lauterem
Lharakter, durch die Begegnung mit
Rose, einer Künstlerin von rütselvoll
unerschlossenernWesen, aus seinerBahn
gelentt und höheren Zielen zugesührt
wird. Er eutüeckt, daß „der Kreis,
in den er hineingeboren war, nicht
die Wslt, nicht das Schicksal, sondern
etwas Zufülliges und Unvollkommenes
war, und üatz jenseits erst das Leben
mit seinen Höhen und seinen Wundern
begann, üatz Gefilde sich breiteten, wo
Seelen sich entfalten und reifen." So
innerlich genötigt, verlätzt er Familie
und Beruf und versucht, durch die
Gründung einer neuen geistigen Exi-
stenz das Änrecht auf die Geliebte,
auf ein neues, erhöhtes Leben zu
gewinnen. Gegensützliche, teils schroffe,
teils zarte Menschen von stärkerem
Puls als daheim, wie sie ihm auf
seinem Studiengangebegegneten,lenken
ihn von sich selber nicht ab, befestigen
ihn nur. Die bittersten Kämpfe mit
den Seinen, an denen er hängt, und
die ihn, sein Weib voran, als einen
Berlorenen beklagen, erduldet er jahre-
lang und ist endlich ein sreier Mann
bis auf die, wie er meint, nun äußer-
lich und lösbar gewordenen Bezieh-
ungen zum eigenen Hause; nur sein
Knabe fesselt ihn tiefer, nachdem
der Vater freiwillig abgeschieüen ist.
Derena jedoch, sein Weib, gibt ihn
nicht frei, will ihm weder das Kind,
noch den Verkehr mit ihm erlauben,
sobald er und Rose sich verbänden.
Jn dem bittern Zwiespalt siegt die
Liebe zu dem Knaben; er gibt die
Geliebte preis. Jnzwischen hat ein
leichtsinniger Bruder das altehrwür-
dige Geschäft daheim an den Ruin
gebracht, das Wohl und Ansehen der
Familie steht auf dem Spiel, er,

Michael, ist die letzte Hvffnung, und
so bringt er das zweite Opfer, gibt
seinen neuen Beruf auf, kehrt in die
engen, monotonen Gassen des ge-
wohnteu Handels zurück, führt wieder
wie einsr ein nüchternes Leben des
Ermerbes. Es glückt ihm damit, aber
sein Knabe gibt ihm die bittere Lehre,
die er dem eigenen Dater gegebsn,
zurück und befremdet ihn durch eine
ungute Entwicklung, die zu bessern,
zu verstehcn ihm keine Kraft gegeben
ist. Nun resigniert er und kostet zum
ersten Male in Feierstunden den reinen
Wohlklang der Erinnerung: „Der
wilde, besinnungslose Drang ins Leben,
der ihn eben angefaßt hatte, slutete
langsam zurück - das Schönste von
allem Schönen, das wußte er ja, der
Schmelz der Freude, das Jnnigste Ler
Liebe war nicht draußen, sondern
ewig in seiner eigenen Seele. Hin-
unter in das Reich der Wiederkehr!
Wo Traum und Sehnsucht in himm-
lischer Gsstaltung wandeln, wo aus
schwärmerischer Farbenglut und Ge-
sängen voll Heimweh das Verlorene
taucht, das unsere Augen benetzcn."

Jch halte den Roman für Las
beste Buch, das die Dichterin ge-
schrieben hat, und für eine der be-
deutendsten Gaben aus der erzählen-
den Dichtung der lstzten Jahre. Die
Art der Verfasserin, zu erzählen, ist
erst neulich im Kunstwart durch zwei
ihrer feinen Skizzen aus üer Triumph-
gasse erläutert worden. Wir treffen
den ruhig schwingsnden Ton des sach-
lichen Berichtens unverändert auch in
diesem Buche, das aber den völlig
geschlossenen Kreislauf einer sehr fein-
gliedrigen, echt epischen Entwicklung
zeigt. Und zwar ist nicht nur der Held
allein solchen fruchtbaren Handlungen
unterworfen, sondsrn bis in dis letzten
Nebenpsrsonen hinein spürt man ein
stetig sortschreitendes Leben. Am dun-
kelsten bleibt Rose, leider, man sucht

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t. Zanuarbeft ^903
 
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