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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1902)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0052

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Aunckscdau

KNgerneinei'es.

O Vom „eckigen" Geschmacke.

Was ist es eigentlich, das uns
immerwiederund trotz allerSpöttereien
zu Dürer hinzieht und für Mahagoni,
Rundschrift und Raphael minder em-
pfänglich macht? Woher kommt es,
daß wir für Gottfried Keller Partei
nehmen? Daß wir uns durch üie Un-
geschicktheiten Hebbels nicht abhalten
lafsen, ihn weit über Leute zu ftellen,
üenen, wie Geibel, kaum je im Leben
etwas zugeftoßen würe, wie es bei
Hebbel fo oft verdrießlich aufsällt?
Woher kommt es, üaß es unter uns
Leute gibt, üie Treitschke als Redner
vertragen konnten, ja die dieses wilde
und kaum noch artikulierte Geheul
ästhetisch genosfen? Daß unter uns
Bismarck alsKünstler empfunden wird?
Bismarck mit diesen Satzungetümcn
voller „Fehler"!

Jch habe öfter die Goethesche
„Klarheit und Einfachheit" empfehlen
hüren. Jn einem Falle habe ich den
Mahner gebeten, einen Kommentar zu
denWeissagungendesBakiszufchreiben.
Da ich faft von Kindesbeinen an in
Goethe gelebt habe, hatte ich vielleicht
ein Recht, mich zu wundern, daß er
einigen Leuten so überaus klar, so über-
aus einfach zu sein schien. Was mögen
fis von Goethe gelesen haben? Wie
mögen fie Goethe gelesen haben?

Döllinger sagt einmal über Luther,
üie Seele seines Volkes sei wie ein
Saitenspiel in seiner Hand gewesen.
Ein viel zitiertes und ein schönes Wort.
Aber man würde es sehr salsch ver-
stehen, wenn man dabei an eine spie-
lende Beherrschung des Stosfes denken
würde. Denn die Eigentümlichkeit der
Lutherschen Sprachgewalt liegt nicht
in Leichtigkeit und Mühelosigkeit, son-
dern umgekehrt darin, daß so riesige
und schwere Massen beherrscht und ge-
gliedert werden, daß man immer Furcht
hat, es werde nicht heraus kommen

und daß es dann doch herauskommt,
sieghaft, übermütig, — kurzum, daß
man immer Zeuge der Arbeit zu sein
glaubt, der Anstrengung, der äußersten
Anspannung gewaltiger Muskeln, daß
man deshalb mit ganz persönlicher
Anteilnahme sich freut, wenn nun üer
Block sich hebt, schwankt und krachend
an genau den Ort hinschlägt, an den
er sollte.

Es ist vielleicht auch klimatisch be-
stimmt, daß wir nordischen Barbaren,
die wir arbeiten müssen, wenn wir warm
haben wollen, arbeiten wenn wir hell
haben wollen, arbeiten wenn wir
schön haben wollen, daß wir auch —
scheint es — Arbeit merken müssen
da, wo eigentlich die Freiheit über den
Stoff und von der Arbeit das Charak-
teristische ist. Nicht daß wir das leichte
Spielen und Tanzen, Singen,Zwitschern
und Flattern nicht leiden möchten, —
aber lieben können wir nur da, wo
wir die überwundene Schwere noch
merken. Einen wirklichen Jubel, der
aus unserm besten und eigensten Jnnen-
leben heroorbricht, empsinden wir nur
da — scheint es — wo wir ein der
Scholle Abgekämpstes sich zur Freiheit
üurchringen sehen. Die Grazie, Glätte,
Harmonie gibt für uns nicht ein Vor-
urteil sür die Tüchtigkeit, sondern sür
die Unbedeutendheit, Oberslächlichkeit,
Wertlosigkeit eines Werkes. Nicht den
Redner lieben wir, der hoch über dem
Stoffe stehend mit Scherz und Witz
und glänzenden Geistreichigkeiten über
ihn plaudert, sondern den, der vor uns
einen Faustkampf zu führen scheint
mit den Geistern, mit den Gedanken,
mit der Sache, der uns in üie Hitze,
in die Erbitterung, in die Leidenschaft
seiner Gedankenarbeit hineinzieht, bis
endlich der Feind am Boden liegt.

Man kann vielleicht auch sagen,
daß es ein andres Stadium des künst-
lerischen Prozesses ist, das uns am
meisten freut. Nicht wenn der Pegasus

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Runstwart
 
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