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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1902)
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Rolfs, Wilhelm: Leihpinakotheken
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0464

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Leikpinakolkeken.

Die tote Kaiserin Marie von Rußland, die Gemahlin Alexan-
ders II. und eine feinfühlende, kunstsinnige Fnrstin, Pflegte die Bilder
der Petersburger Eremitage in der Weise zu genießen, daß sie die
besten, eins nach dem andern, für einige Zeit an passenden Stellen
ihrer Gemächer aushängen ließ, um sie, wenn sie sich völlig mit ihnen
eingelebt hatte, mit andern zu vertauschen. Kein Wunder, daß manche
jahrelang hängen blieben . . .

Das ist nnn viele Jahre her; aber schon damals tauchte in
mir der Gedanke auf, daß es nicht genüge, bloß Kaiserinnen aus
dem Elend des Kunstkammer-Genusses herauszuführen, sondern daß
es recht und möglich sein müsse, auch dem Volke seine in zahllosen
Sammlungen ausgespeicherten Kunstschätze wieder unmittelbar zum Ver-
stehen und Genießen nahe zu bringen. Seitdem hat der Gedanke,
die oft genug ruchlos und ohne jeden Grund aus ihrer Umgebung
losgelösten Werke der bildenden Kunst vergangener Tage wieder in
eine solche Umgebung zu bringen, daß sie den Zweck, künstlerisch
zu „wirken" und die beabsichtigte Stimmung wach zu rusen, er-
füllen, zweifellos große Fortschritte gemacht. Die Überzengung bricht
sich Bahn, daß jedes Kunstwerk einen bestimmten Ort verlangt, an
dem es seine Wirkung am sröhlichsten und sichersten zu entfalten ver-
mag, und daß der letzte Ort, an dem dies möglich erscheint, das
Museum und die nach seinem Muster entstandene „Kunstausstellung"
ist. Ein weiteres dahin zielendes Wort, das vor zwanzig Jahren
kaum eine Stätte gesunden hätte, von der aus es gehört worden
wäre, dars jetzt hossen, nicht nur einem größeren Kreise, den ähnliche
Gedanken bewegen, zugänglich zu werden, sondern durch den Kunst-
wart vielleicht die Ohren derjenigen zu erreichen, die auch diesen
Gedanken verwirklichen können.

Dieser selbst ist so einsach, bei näherer Prüsung so einladend,
und seine Umsetzung in die Tat ist mit so wenig Umständen und
Kosten verknüpft, daß man sich nur wundern wird, warum er nicht
längst zur Tat geworden ist. Freilich ist gerade sür diese Art der
Verwunderung aus deutschem Boden noch ein gewaltigcr Raum vor-
handen, und gespenstisch drohend steht auch neben mir, während ich
dies schreibe, die halb phantastisch, halb philisterhaft nüchtern ausge-
putzte Gestalt der Bürokratie mit einem kolossalen Aktenbündel unter
dem Arme. Wird sie auch diesen Gedanken kalten Blickes auf sein
bescheidenes Stühlchen zurückweisen, bis — er gerusen wird?

Was ist eine Leihpinakothek?

Eine ausgewühlte staatliche Sammlung von alten und neuen
Bildwerken, die an össentliche Gebüude und Anstalten, in erster Reihe
an Kirchen, Schulen, Rathäuser aus mehr oder minder beschränkte
Zeit unentgeltlich „ausgeliehen" werden.

Die Gestalt neben mir bricht in einen Schrei des Entsetzens
aus. Was? Diese sorgfältigst numerierten, klassifizierten, katalogi-
sierten, gesirnißten, zahllosen Professoren und ihren Schülern zum
allerbequemsten Studium an einander gereihten, mit unendlicher Mühe
und unglaublichen Kosten zusammengebrachten Schätze, die außerdem

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