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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1902)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0131

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löileratur.

RlmäsebLU,

G Unser N ation allie d,

Als von den Krönungsfeierlichkeiten
in Madriü dis Rede war, konnts man
in den Zeitungen u. a. folgendes
lesen: „Als »Heil Dir im Siegerkranz«
ertönte, hörte ich ringsum ein: „^ii,
^.lemunia!"" Alfo auch im Auslande
gilt die preußische Königshymne für
das Nationallied der Deutschen. „Heil
Dir im Siegerkranz" hat bekanntlich
die Melodie des „Oocl save tirs kinA".
Vor allem aber: es ift eben eine Königs-
hymne und überhaupt kein Nationallied.

Ein Nationallied, ein Lied, das,
wenn Höhenluft die Herzen durchweht,
die eüelften Gefühle deutfchen Blutes
zusammenfaffen und in braufenden
Jubellauten hinaustönen laffen foll,
es follte auch entftanden sein aus dem
Beften und Tiefsten des deutfchen
Volkstums und follte mit Wort und
Ton Vorstellungsn und Stimmungen
auslösen, die in dsr Oftmark wie in
der Pfalz, an der Norüfee wie am
fchwäbischen Meer gleich empfunden
werden. Das tut „Heil Dir im Sieger-
kranz" weder mit dem Text noch mit
der Melodie. Freilich, „Deutfchland,
Deutfchland über alles" tut es auch nicht.
Die fchöne Melodie haben wir der
Habsburgischen Kaiferhpmne entnom-
men; und Habsburg ift ja noch fehr
viel rveniger ganz Deutschland, als
Hohenzollern. Die Worte aber — wer
fie einmal in ruhiger Stimmung ge-
lesen hat, wird mit mir hoffen, üas
Volk Luthers, Goethes, Bismarcks,
Wagners und all üer andern Großen
habe doch wohl von feinem Lande und
feiner Liebe zu diesem feinem Vater-
lande noch mehr und Tieferes zu fagsn.
Die „Wacht am Rhein" endlich kommt
hier gar nicht in Frage, roeil fie ein aus-
fchließlich gegen Frankreich gerichteter
Kampfgefang auf einen Angriff der
vaterländifchen Grenze ift.

Was wir beklagen, gilt nicht von
Deutschland allein. Die fchwedifche

Schriftftellerin Ellen Key fchrieb in
ihrem „Patriotismus" betitelten offenen
Briefe an Werner von Heidenftam,
nachdem fie üem üblichen Hurrah-
patriotismus, dem Patriotismus der
Denkmäler, Gedenkfsfte und Festreden
jeglichen Wert abgefprochen hat, das
Folgende:

„Aber du haft eine andere, nicht
minder typisch fchwedifche Art, das
nationale Selbstgefühl zu erhöhen,
vergessen, nämlich der Feftredner und
Feftdichter Gepflogenheit, nicht dem
Cäfar zu geben, was des Cäsars ift,
und dem Volke, was des Volkes ist,
fondern dem Cüsar die ganze Ehre
der Endergebnifse aller im Volke frei-
fchaffenden Kräfte zuzufchieben. Und
das Volk beftärkt üiefe rhetorifchen
Uebergriffe in das Gebiet seiner eigenen
Würde dadurch, daß es in feinen be-
geifterten Augenblicken kein ander
Wort den Tiefen des fchwedischen
Herzens entfteigen läßt als eine Königs-
hymne. Aber weder im fchwedifchen
noch in irgend einem anderen west-
europäifchen Volke ist Anhünglichkeit
an den Fürften heute noch identifch
mit Patriotismus. Unfere Königs-
hymne ift daher ein fchönes und wür-
diges nationales Lied ausschließlich
bei folchen Gelegenheiten, wo das
Volk üem Regenten perfönlich hul-
digen will. Sie ift aber nicht rvert,
das einzige Nationallied einer modern
fühlenden und modern denkenden Na-
tion zu fein. Sogar den ruffifchen
Selbftherrscher grüßt man in Finnland
mit: rUnser Land, unfer Land, unser
Vaterland —« (finnifches Nationallied
v. I. L. Nuneberg), und in Norwegsn
empfängt man den König mit »Ja,
wir lieben dieses Land . .« (oon
Björnson). Damit erwcift man üem
Fürsten üie größtmögliche Ehrs: man
nimmt von ihm an, daß er des Landes
Natur, feine große Vergangenheit,
feine Gegenwart, feine Zukunft — der

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