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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 7 (1. Januarheft 1903)
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Avenarius, Ferdinand: Naturprodukt und Kunstwerk
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0528

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schafts-Portrat, um keüie Vedut handelt, hat auch sonst die Phantasie
des Malers mit den Formen der Natur frei geschaltet.

Blicken wir nun noch aus ein figürliches Werk, aus des Grafen
Leopold von Kalckreuth „Fahrt ins Leben". Der Künstler sieht unter-
wegs eine alte gebückte Bauersfrau, die im Wägelchen hinter sich ihr
Enkelkind zieht, er skizziert sie, wie er sie sieht (im Buche findet man
auch dieses Blatt), und bestellt sie, um sie zunächst einmal zu photo-
graphieren. Diese Photographie zeigen wir. Plötzlich, am Schreibtisch,
kornmt die Konzeption, die den geistigen Gehalt erfaßt und im Raume
gestaltet — mit ein paar Strichen wird sie aufs nächste Blatt notiert.
Zum Bilde ausgesührt, zeigt sie unser letztes Bild in äußerst eindringlicher
Silhouette, daß sich das Bild durch die Vertikale des herabgehenden
Arms und des Schürzenrandes der Breite nach entsprechend dem
goldenen Schnitte teilt. So sährt die Alte an uns vorbei, und neberr ihr
weg blicken wir weit ins leuchtende Land, ins Leben hinaus. Die
Symbolik des Vorgangs ist nicht durch irgendwelche Allegorisiererei ver-
klügelt, noch ist die äußere Häßlichkeit der Alten durch falsche „Jdeali-
sierung" aufgeschönt worden. Der Vorgang ist nur in seinem Wesen
erfaßt, daraufhin durch meisterliche Raumbehandlung zur höchsten Wirkung
gebracht und durch Herausheben der seelischen Schönheit, die als Be-
deutsamkeir unter der körperlichen Häßlichkeit ruhte, trotz allem Natura-
lismus stilisiert worden. Der Körper steht auf dem Gemälde selbst in
düsteren kalten Farben vor leuchtend warmer Luft.

Eine eingehendere Besprechung dieser und mancher andrer Werke
findet man also in Ludwig Volkmanns Buch. Daß auch ich nicht in
jedem Einzelurteile mit ihm übereinstimme, mag ausgesprochen werden,
ändert aber an der Tatsache nichts, daß ich sein Buch für eins der
allernützlichsten unsrer jungen Bewegung halte. Kunstgeschichten helfen
der gar nichts. Jn Werke dieser Art sollte sich vertiesen, wer, im Bilder-
besehn noch ungeübt, Auge und Geist sür Genüsse schulen will, die zu
adelnden Bereicherungen führen. A.

VlLtter-

Gellicbte von Milbelni Iensen

Vorbemerkung. So bekannr der Erzähler Wilhelm Jensen in weiten
Kreisen ist, der Lyriker Jensen hat zwar seit lange sehr warme Verehrer ge-
habt, aber niemals sehr viele. Vielleicht hat das mehrere Gründe, einer jedoch liegt
offensichtlich klar. Die Weltanschauung, die in seinen Gedichten atmet, ist so
schmerzensreich, daß man Jensen mit mehr Recht als irgend einen andern
unter den Lebenden den Dichter des Schmerzes nennen könnte. Sache der
Mehrzahl aber ift es bekanntlich nicht, sich viel und eindringlich mit
dem Schmerze zu besassen. Und eindringlich beschäftigt Jensen damit.
Er ift kein „spezifischer" Lyriker. Das Hellsehen im wachen Traum, das etwa
aus Goethes „Mignon", aus Mörikes „Um Mitternacht" oder aus Kellers
„Abendlied" uns anblickt, ihm begegnen wir bei Jensen kaum, aber das tief-
innerliche Ringen einer stolzen Natur findet doch in ihm nicht nur das redende,
sondsrn oft genug auch das gestaltende Wort. Betrachtet man daraufhin jene
Gedichte, welche die Eigenart seiner Lyrik am entschiedensten zeigen, wie „Die
Hauspostillc" oder „Seltsame Genofsen", so erstaunt man über die sichere

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