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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft)
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Lehmann, Alfred: Jenseits von Schön und Hässlich: Randbemerkung zu einer neuen Kunstlehre
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0178

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Randbemerkung zu einer neuen Runstlehre.

Jenseits von Schön und Häßlich oder roie man es sonst benennen
wolle, jenes dritte, jenes in abgründlicher Tiefe unter der tObersläche des
Kunstwerks schlummernde Wesen, das als geheimnisvoller Erreger der
ästhetischen Lust nicht die Züge der Schönheit, noch als ihr Zerstörer
die der Häßlichkeit trägt! Ohne jenes verborgene Wirkungselement, was
wären uns die homerischen Götter und Helden, die da brüllen wie zehn-
tausend Stiere, wenn die Wut sie übermannt, was der Schaber des
Lysipp mit seinem unappetitlichen Ningbahnmotiv, der Laokoon oder der
sarnesische Stier; was hütten die wasserköpsigen Zwerge des Velazquez
in der Kunst zu suchen, oder ein Werk wie Davids „Familie Bataillard"
in Brüssel, was die schauerlichen Martqrien Riberas und Poussins, die
Geschwürsoperationen eines Teniers oder Browers wüste Prügeleien?
Was Richard III, Lady Macbeth und Michael Kramer? Was die Disso-
nanzen einer Musik von Richard Strauß, ein van de Veldesches Linien-
ornament, der puppenhaste Tanz der Saddah Jakko, oder das Wunder-
werk des Eisselturms? Und andererseits, was hemmt die ästhetische Lust
in einem Trauerspiel von Gottsched oder auch in dem Johannes von
Sudermann, in einer Oper wie dem Neßlerschen Trompeter, einem Roman
von der Marlitt oder Ebers, was kränkt den seinen Sinn im Betrachten
eines Heroendenkmals, das Begas gesormt oder Anton von Werner ge-
malt hat, warum schweigen seine Saiten vor Thumanns Liebespaaren
oder Bodenhausens Märchen? „Kunstwerke" sind sie doch alle, „Kunst-
werke" wenigstens im weitesten Umfange des Wortes, die hier genannten,
und trotzdem, weder mit dem Begrisf des Häßlichen noch mit dem des
Schönen läßt sich Mißvergnügen oder Freude an ihnen erklären.

Was ist schön, was ist häßlich? Um die Antwort, wie um die
Lösung der Pilatusfrage „was ist Wahrheit?" haben Dichter und Denker
ihr Hirn zermartert. Systeme wurden aus den beiden Wörtlein errichtet,
eines das andere ausschließend und vernichtend, bejubelt das von heute,
verhöhnt das von gestern, zu leicht ersunden das gedankenlose wie das
gedankenschwere. Schönheit und ihr Widerpart, nie ersaßt, gleich dem
griechischen Kairos, dem Gotte der Gelegenheit, sind sie mit beslügelten
Sohlen an den Seziertischen der Begrisssanalytiker vorübergeschwebt.

Schönheit, mit diesem „dunklen Paradoxon" erösfnet Plato die
Diskussion über das Thema, Schönheit liegt als „Jdee" in der Seele
des Künstlers; was sich im Gebilde seiner Hand oder seines Geistes ihm

* Auch Titel haben ihre Schicksale. Beim Studium des Laugeschen
Werkes über das Wesen der Kunst entftand in mir gleichzeitig mit dem Grund-
gedanken der hier oorgelegten Arbeit das ihn verkörpernde Wort, mit welcheni
ich jene betitelte. Vierzehn Tage schon lag das fertige Manuskript auf dem
Schreibtisch des Herausgebers dieser Zeitschrift, als in der „Woche" ein
Aufsatz erschien: „Jenseits von Schön und Häßlich. Von Prof. Dr. Karl
Lange (Tübingen)"! Welch ein seltsames Zufallsspiel: auf den Loschwitzer
Höhen variiere ich einen Langeschen Gedanken und prüge ihm ein eigenes
Titelwort, rvährend fern am Neckar der Erzeuger jenes Gedankens etwa
zur qleichen Zeit mit dem gleichen lakonischen Satz eine Arbeit überschreibt. —
So kann man unter Umständen den Distelkranz des Titelplagiarius erwerben,
und weiß nicht wie! A. L.

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Uunstrvart
 
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