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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 3 (1. Novemberheft)
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Batka, Richard: Das Deutsche Kunstlied, [2]: Johann Sebastian Bach
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0177

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und werden selbst bei guten Christenmenschen keinen Anklang mehr sinden.
Gewiß, daß Bachs Töne, welche die dichterische Absicht weit überholen
und vertiefen, uns über niele Absvnderlichkeiten und Unzulänglichkeiten
der Wortsprache hinweghelsen, aber ich rate dennoch, sich beim praktischen
Gebrauche nicht mehr als zwei oder drei dieser Gesänge hintereinander
zu Gemüte zu sühren.

Es gibt ein weltliches Lied von Bach, welches „Erbauliche Ge-
danken eines Tabakrauchers" vertont, der allerhand Aehnlichkeiten
Zwischen sich und seiner Pfeife ausfindig macht und das Gleichnis durch
mehrere Strophen durchsührt. Die Melodie beobachtet eine steise Feier-
lichkeit, die wohl ironisch gemeint ist, jetzt aber nur mehr langweilig
wirken dürfte. Jn dem Notenbüchlein, das Bachs zweite Frau, Anna
Magdalena sich anlegte, und worin dieses Tabakspseisenlied stcht,

ist auch das „Willst du dein Herz mir schenken" eingetragen, und zwar
mit der Ueberschrist: ^ria 6i Oovannmi. Jn Govannini hat man
Bachs italianisierten Namen Johann vermutet, und ein Bachkenner wie
Rust hielt an der Autorschast Bachs hartnäckig fest, auch als Spitta
nachgewiesen hatte, daß es einen Komponisten namens Giovannini ge-
geben hat, der, obwohl Jtaliener von Geburt, sür das s737 von Gräse
herausgegebene „Odenbuch" mehrere deutsche „Arien" ähnlichen Stiles
schrieb. Endgiltig entschieden ist die Streitsrage bis heute noch nicht.
Aber ich möchte noch daraus hindeuten, daß die Stelle „allzeit ver-
schwiegen sein" mit einer rnelodischen Wendung Bachs in der Baß-
arie der Matthüuspassion (§-äar) übereinstimmt. Völlig ungewiß ist
man endlich auch über den Versasser des Gedichtes, das in seiner un-
gekünstelten, naioen Herzlichkeit sehr vorteilhast von der gezierten Art
der zeitgenössischen Poesie sich abhebt. Die Annahme, daß es Bach selbst
sür seine Braut gedichtet habe, ist zwar vielleicht nicht unrichtig, aber
keineswegs mehr, als eben eine Mutmaßung. Jn musikalischer Hinsicht
betritt man nach den geistlichen Gesängen hier eine neue Welt. Keine
Spur mehr von der lapidaren Melodik des Chorals, alles im galanten
Stil gehalten, mit vielsältiger, zierlicher Brechung der gesälligen, melo-
dischen Linie. Gegen die geistlichen Lieder stellt dieses Liebeslied die
neue, immer mehr dem Einsluß der Wälschen unterliegende Zeit dar.
Jmmerhin scheint es mir geraten, die Koloraturen nicht als brillante
Läuse auszusühren, sondern sie im gelassenen Zeitmaß nach Möglichkeit
melodisch zu behandeln. Dann wird das hübsche Liedchen, das aus
jeden Fall im Bachischen Hause bekannt und beliebt war, mag es nun
Bach oder Giooannini komponiert haben, auch heute noch ansprechen
und uns eine gemütvolle Episode aus dem Liebesleben des gewaltigen
Meisters vor die Seele zaubern. R. B.


Novemberheft ^902
 
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