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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1902)
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Avenarius, Ferdinand: Kunstgenuß und helfendes Wort
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Weber, Leopold: Neues von Wilhelm von Polenz
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0023

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daß sie auf das Verhalten von Gold Schlüsse aus Experimenten an
Messing zieht.

All das Gesagte ist einsach genug, aber Jahrzehnte über Jahr-
zehnte hat rnan's praktisch kaurn bedacht, und noch jetzt sucht man an
tausend Schulen, in tausend Büchern und in tausend Zeitungen den
Geschmack am Wein durch Weinanalysen zu erziehen. Kunstgeschichte
und Aesthetik sollen in der Jugend und im Volk, so glaubt man häufig
noch heute, das „Verständnis" sür Kunst erwecken und bilden. Auch an mich
ergehen noch ost genug Anfragen, welche „Kunstgeschichte" oder welche
„Aesthetik" man ausgesprochenermaßen zu diesem Zweck „lesen" solle.
Aber „Verständnis" sür Kunst ist gar nicht die Hauptsache sür Jugend
und Volk, die Hauptsache ist, daß man Kunstwerke, wenn ich so sagen
dars, lesen lernt, richtig lesen lernt, daß man ihren Gehalt erfaßt, wie
das z. B. bei der Muttersprache sehr wohl geschehen kann, ohne daß
man viel von ihrer Grammatik weiß. Das Lesen der Kunstsprache
übt sich durch Aesthetik und Historie nie. Es übt sich durch das
Versenken in die Natur selber und durch das Versenken in einzelne
Kunstwerke, bis deren Stofflichkeit vor dem Beschauer gleichsam weg-
schwindet, wie aufgeschlagene Fenster, so daß er des dargestellten Stückes
Welt innig mit der Seele desjenigen Künstlers genießt, der es zuerst so
erschaute und nunmehr auch ihm zeigt.

Eine Literatur, die hierzu helsen kann, ist bis jetzt nur in
Bruchstücken und Anfängen da. Es muß auch referiert werden in
der Welt, wir brauchen eine Chronik nicht nur der neuen Kunstwerke,
sondern auch unserer Eindrücke, unserer Meinungen und Urteile über
neue Kunstwerke. Diese Chronik geben von den verschiedenen Stand-
punkten aus die Kunstausstellungsberichte unserer Zeitungen, und so
haben sie ihre Werte, sofern sie ernst und ehrlich sind. Sollten sie
förderlich zum erfühlenden Aufnehmen von Kunst sein, förderlich also
zum Kunstgenusse, so müßten sie sreilich anders sein. Die Vorbe-
dingung sür solche Umgestaltung wäre, daß sie bei einigen wenigen
Werken in Ruhe vertiesend verweilen dürften. A.

^on Tlilksirsi von Dolsn^.

Polenz, der treffliche, sachkundige Schilderer bäuerlichen und
junkerlichen Lebens, erzählt diesmal in seinem zweibändigen Roman
„Wurzellocker" (Berlin, F. Fontane) von dem Heranreisen eines jungen
Poeten aus den Zeiteinflüssen der letzten Jahrzehnte zum selbständigen
Manne. Der Schriftsteller Fritz Berting, der mit seiner beamtenstolzen
Familie insolge seiner Berufswahl zerfallen ist, tritt uns anfänglich
in ganz modern charakteristischer Unreife entgegen. Als Mensch sucht
er den Genuß an der Oberfläche: die tiefe, schlichte und klare Weib-
lichkeit seiner Geliebten Alma Lux vermag ihm keinen Ersatz zu geben
für ihren Mangel an Belesenheit und an dem, was unsere Kultur-
sexe „Geist" heißen; und als sie zur Mutter reist, fühlt sich sein
„ästhetischer" Sinn durch die Anzeichen davon ebenso zurückgestoßen, wie
er in dem kommenden Kinde vor allem eine lästige Fessel fürchtet. Als
Schriftsteller aber steckt er zunächst im dicksten Naturalismus, begeistert

Gktoberbeft t902

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